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Unverantwortliche Träumereien eines Ökonomen

Arbeit macht nicht krank: Arbeitgeber schulden keine Beiträge an die Krankenkassenprämien

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) will fünf Prozent mehr Lohn - sowie eine Beteiligung der Arbeitgeber an den Krankenkassenprämien ihrer Mitarbeiter. Seine Argumente stehen auf mehr als wackeligen Füssen, meint unser Autor.

Thomas Baumann am 06. September 2023

Der Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, Daniel Lampart, forderte am Donnerstag in einem viel beachteten Interview in der Tageszeitung «Blick» eine Beteiligung der Arbeitgeber an den Krankenkassenprämien ihrer Angestellten. Seine lapidare Begründung: Arbeit verursache schliesslich gesundheitliche Probleme.

Es ist unbestritten: Gesundheitliche Probleme können bei und wegen der Arbeit auftreten. Wäre das nicht so, dann bräuchte es ja beispielsweise keine Berufsunfallversicherung.

Doch der SGB-Chefökonom übersieht geflissentlich: Gesundheitliche Probleme treten nicht nur bei der Arbeit auf, sondern auch dann, wenn Menschen nicht arbeiten. Die Frage müsste also nicht lauten, ob Arbeit gesundheitliche Probleme verursacht (was unbestritten ist), sondern vielmehr: Treten mit oder ohne Arbeit mehr gesundheitliche Probleme auf?

Arbeitslose erkranken häufiger

Der mittlerweile emeritierte Soziologieprofessor Ueli Mäder schrieb bereits 2007: «Wer arbeitslos ist, hat ein höheres Risiko zu erkranken.» Und: «Im Unterschied zu vergleichbaren Gruppen von Beschäftigten unternehmen Erwerbslose häufiger Suizidversuche.» Fazit: Arbeitslosigkeit scheint grössere gesundheitliche Probleme zu verursachen als Arbeit.

Doch auch bei Personen im Erwerbsleben verursacht die Freizeit - also die Nicht-Arbeitszeit - gesundheitliche Probleme. So schreibt die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU): «Wer in der Schweiz lebt und arbeitet, hat heute ein höheres Risiko, sich bei einem Unfall in der Freizeit zu verletzen als bei einem Berufsunfall.»

Mehr Freizeit, mehr Unfälle

Wer glaubt, dies wäre bloss darum der Fall, weil die Menschen zu viele Stunden arbeiten und deswegen in der Freizeit eine gefährlich Hektik vorherrsche, dem widersprechen die Ausführungen der BFU: «Wir verfügen heute über mehr Freizeit als noch vor 30 Jahren. Wir haben mehr Zeit und Möglichkeiten. Die Kehrseite: die Zahl der Nichtberufsunfälle ist in diesem Zeitraum um etwa ein Drittel gestiegen, während die Zahl der Berufsunfälle um ein Viertel gesunken ist. Die erwerbstätige Bevölkerung erleidet heute rund doppelt so viele Nichtberufsunfälle wie Berufsunfälle.» Oder wie die BFU lapidar titelt: «Mehr Freizeit, mehr Unfälle».

Gemäss den Zahlen des BFU verlieren jährlich rund 2400 Menschen bei Nichtberufsunfällen ihr Leben - ein Vielfaches der von den Unfallversicherungen registrierten berufsbedingten Todesfälle durch Berufskrankheiten oder Unfälle.

Staatsangestellte verunfallen öfter in der Freizeit

Zudem zeigt die Unfallversicherungsstatistik der SUVA: Branchen mit relativ hohem Berufsunfallrisiko wie die Landwirtschaft und das Baugewerbe haben im Gegenzug das tiefste Risiko für Nichtberufsunfälle, während nirgendwo die Quote für Nichtberufsunfälle höher ist als in den staatsnahen Branchen Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswesen, sowie öffentliche Verwaltung.

Offenbar hat man in den staatsnahen Branchen nach der Arbeit noch so richtig viel Energie, um in der Freizeit «auszupowern». Während harte, vor allem auch körperlich harte, Arbeit wiederum das Unfallrisiko in der Freizeit senkt - möglicherweise gar mehr, als Mitarbeitende während der Arbeit verunfallen.

Arbeit ist Gesundheitsprävention

Daraus lässt sich, statistisch korrekt, der Schluss ziehen: Arbeitslosigkeit macht krank und Freizeit tötet. Nirgendwo sind die Menschen gesundheitlich sicherer aufgehoben als am Arbeitsplatz. Wäre es Daniel Lampart wirklich ernst mit dem Verursacherprinzip, dann müsste er nicht die Arbeitgeber «bestrafen», indem er sie dazu verknurren will, einen Teil der Gesundheitskosten ihrer Angestellten zu berappen - sondern sie im Gegenteil für ihren Beitrag zur Gesundheitsprävention (finanziell) honorieren.

Zudem: Bezahlen die Arbeitgeber die Krankenkassenprämie mit, dann verliert ein Angestellter bei einer Entlassung nicht bloss seine Stelle, sondern auch noch einen Teil seiner Krankenversicherung bzw. einen Teil von deren Finanzierung. Böse Zungen könnten behaupten: Dies wären quasi amerikanische Verhältnisse - will der Gewerkschaftsbund etwa den hiesigen Arbeitsmarkt amerikanisieren?

Allerdings wird die Suppe nicht so heiss gegessen, wie sie gekocht wurde: Die 175 Franken, welche die Arbeitgeber in der Uhrenindustrie gemäss Gesamtarbeitsvertrag seit neuestem an die Krankenkassenprämien ihrer Mitarbeitenden bezahlen, sind de facto einfach ein Lohnbestandteil von etwa drei Prozent des Lohns eines Mitarbeiters.

Dass ausgerechnet die Uhrenindustrie zu einer solchen Kostenbeteiligung Hand bot, dürfte mit den vielen französischen Mitarbeitern der Branche zu tun haben: In Frankreich wird das Gesundheitssystems nämlich teilweise durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge finanziert. Erhält ein französischer Mitarbeiter zum ersten Mal die Prämienrechnung seiner hiesigen Krankenversicherung, dürfte er fast einen Schock erleiden.

Hohe Lohnforderungen

Letztlich geht es also auch bei dieser Forderung bloss um die altbekannte Gewerkschaftsforderung: Mehr Lohn. Wir hätten drei Jahre hinter uns, in denen die Arbeitgeber nicht einmal den Teuerungsausgleich gegeben hätten, beklagt sich Daniel Lampart im Interview. Korrekt ist: 2021 und 2022 nahmen die Reallöhne tatsächlich ab - 2020 stiegen sie aber noch um 1,5 Prozent.

Und natürlich gilt auch bei den Löhnen: Bei der Betrachtung solcher Entwicklungen kommt es immer auch auf den gewählten Zeithorizont an. So stand der Nominallohnindex (mit Basisjahr 2010=100) 2022 bei 108 Punkten, während der Landesindex der Konsumentenpreise einen Stand von 102.5 Punkten erreichte. In den zwölf Jahren seit 2010 kam es somit zu einer durchschnittlichen jährlichen Reallohnerhöhung von etwa einem halben Prozent. Nicht riesig viel, aber doch im positiven Bereich in einem teilweise schwierigen wirtschaftlichen Umfeld.

Tiefere Inflation

Was die Zahlen auch zeigen: Seit Anfangs 2023 hat sich die Inflationsrate von 3,3 Prozent auf einen Wert von unter zwei Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat verringert und befindet sich damit innerhalb des Zielkorridors, welche die Nationalbank als Preisstabilität definiert.

Ausgerechnet in einer Zeit abflauender Teuerung mit der Forderung nach einer Lohnerhöhung von fünf Prozent vorzupreschen, ist - gelinde gesagt - unverantwortlich. Ausser der Gewerkschaftsbund will unbedingt die Inflation weiter anheizen. Und damit die Zinsen und die - bekanntlich an das Zinsniveau gekoppelten - Wohnkosten weiter in die Höhe treiben. Etwas mehr Realitätssinn und ökonomischer Sachverstand täte auch auf Gewerkschaftsseite gut!

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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