Dass die Ostschweiz laut einen Sitz im Bundesrat fordert, wird nicht überall verstanden. In den sozialen Medien heisst es, die Region sei in der Vergangenheit gut vertreten gewesen. Der Grund: Nicht alle definieren «Ostschweiz» gleich.
«Von mir aus wählt diese KKSutter, aber hört bitte auf von einem Ostschweizer Sitz zu reden, oder davon, dass der Osten jetzt lange habe warten müssen.» Das schreibt der Historiker Benedikt Meyer auf Twitter. Denn er hat nachgerechnet: Seit 1980 seien sechs Ostschweizerinnen und Ostschweizer im Bundesrat gesessen, aber nur drei aus der Zentralschweiz und nur einer aus der Nordwestschweiz.
Man stutzt: Sechs Ostschweizer seit 1980? Das wäre in der Tat eine Ballung. Und die anderen Regionen hätten mehr Grund, sich zu beschweren. Aber stimmt die Rechnung?
Die (relativ willkürlich gezogene) zeitliche Grenze von 1980 schliesst auch den «Über-Bundesrat» Kurt Furgler ein, der von 1972 bis 1986 in der Landesregierung sass. Aber was kam danach?
Die Rechnung ist schnell gemacht, weil die Liste übersichtlich ist: Der Innerrhoder Arnold Koller, seine Kantonskollegin Ruth Metzler und schliesslich Hans-Rudolf Merz, der 2010 ausschied. Seither war die Ostschweiz nicht mehr im Bundesrat vertreten. Macht inklusive Furgler vier Personen - und beim besten Willen nicht sechs. Wie kommt der Historiker also dazu, 50 Prozent zuzuschlagen?
Die Antwort ist einfach: Meyer nimmt vermutlich kurzerhand Graubünden zur Ostschweiz. Und er ist damit nicht alleine. Immer wieder wird auf Eveline Widmer-Schlumpf verwiesen, wenn es um die Ansprüche geht, welche die Ostschweiz erhebt. Und nimmt man ihren Vater Leon Schlumpf noch dazu (Bundesrat bis 1987), kommt man auf sechs Bundesräte seit 1980 - aus der Ostschweiz inklusive Graubünden.
Die Frage ist nun, ob das zulässig ist. Nimmt man das Bundesamt für Statistik als Referenz, müsste man sagen: Ja. Denn dieses definiert sogenannte «Grossregionen der Schweiz». Es sind sieben an der Zahl, und zur Ostschweiz gehören demnach St. Gallen, Thurgau, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Glarus, Schaffhausen - und Graubünden.
Mit der gesellschaftlichen Realität hat das aber wenig zu tun. Die Schaffhauser sind stark Zürich zugewandt, die Glarner sind der Innerschweiz näher. Und ein Bündner versteht sich kaum als klassischer Ostschweizer. Ein gängiger Begriff für diesen Lebensraum ist nicht zuletzt deshalb «Südostschweiz». Und in vielen Dingen würde man Graubünden wohl eher mit dem Tessin in einer Einheit sehen als beispielsweise mit dem Thurgau.
Der Einbezug der Regionen in den Bundesrat ist deshalb entscheidend, weil man davon ausgeht, dass Bundesräte - im engen Rahmen ihrer Möglichkeiten - im Zweifelsfall versuchen, auch mal die Interessen ihrer Heimat zu vertreten. Deshalb ist die entscheidende Frage: Wie gross ist die Schnittmenge der Interessen zwischen Graubünden und der «Kernostschweiz» aus St.Gallen, Thurgau und den beiden Appenzell? Zum Beispiel in der Verkehrspolitik? Es mag das eine oder andere Projekt geben, von dem alle profitieren, aber letztlich steht Graubünden eher in einer Konkurrenz- als in einer Kooperationssituation mit der Ostschweiz, wenn es um die Verteilung von Geldern gibt.
In diversen interkantonalen Gremien gibt es eine Zusammenarbeit, aber die gibt es fallweise auch zwischen der Kernostschweiz und Zürich. Deshalb würde niemand die Ostschweiz zur Grossregion Zürich zählen - oder gar umgekehrt.
Im Bundeshaus selbst scheint man die Wahrnehmung des twitternden Historikers übrigens weniger zu teilen. Dort hört man kaum, dass der Ostschweizer Anspruch aufgrund von Eveline Widmer-Schlumpf nicht gegeben sei. Offenbar nimmt man sie nicht als Ostschweizerin wahr. Wohl zu recht.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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