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Finanzielle Not

Caritas-Bereichsleiter zur steigenden Armut in der Ostschweiz: «Wir sprechen von einer sozialpolitischen Zeitbombe»

Die Zahlen schrecken auf: 80'000 Menschen leben im Kanton St.Gallen in Armut oder sind armutsgefährdet. Experten schlagen Alarm – denn die Lage könnte sich weiter zuspitzen, wenn nicht reagiert wird.

Manuela Bruhin am 03. November 2023

Nichts gegen Lorenz Bertsch. Dennoch hätten wir uns statt dem Leiter des Fachbereichs Sozialpolitik der Caritas Regionalstelle Sargans ein Gegenüber gewünscht, das weiss, was es heisst, zwischen Schuldenfalle und notwendigen Anschaffungen gefangen zu sein. Jemand, der versucht, den täglichen Spagat hinzubekommen. Auch wenn die Lage häufig beinahe aussichtslos erscheint. Wenn der Lohn einfach nicht zum Leben reicht.

Der neueste Armutsbericht 2023 der Caritas zeigt auf: Im Kanton St.Gallen leben 80'000 Menschen in Armut oder sind armutsgefährdet. Eine erschreckend hohe Zahl. Stellvertretend möchte da jedoch niemand hinstehen und zugeben, dass er oder sie darunter leidet. «Die Schamgrenze ist ganz klar da», sagt Bertsch im Gespräch. «Häufig leben die Menschen zurückgezogen, wollen sich nicht zu erkennen geben oder etwas von ihren Problemen offenbaren.»

Kritische Einstufung

30'000 von den 80'000 Menschen haben kein Anrecht auf staatliche Unterstützung. Sie arbeiten zwar, aber der Lohn ist viel zu tief, als dass er die monatlichen Kosten decken würde. Die Situation stuft Bertsch als kritisch ein. «Wir sprechen von einer sozialpolitischen Zeitbombe», sagt er.

Unterstrichen werden seine Aussagen von Personen, die in der Broschüre zu Wort kommen – natürlich anonym. «Unser Einkommen liegt 45 Franken über dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum. Dies wurde mir so auf dem Sozialamt kommuniziert», lässt sich eine 34-jährige Alleinerziehende in der Broschüre zitieren. «Entsprechend erhalte ich keine Unterstützung. Es kümmert niemanden, dass ich pro Monat 270 Franken Mehrkosten im Bereich Energie, Mieterhöhung, Krankenkasse habe und nicht weiss, ob das Einkommen noch für den Einkauf der Lebensmittel reicht.»

Teurer Unterhalt

Viele kommen völlig unverschuldet in die Situation, plötzlich den Lebensunterhalt nicht mehr stemmen zu können – trotz Arbeit. Ein Schicksalsschlag vielleicht, eine Trennung vom Partner, gesundheitliche Probleme oder eine Kündigung – alles könnte den Untergang bedeuten. «Sie verschulden sich automatisch, weil der gesamte Lebensunterhalt teurer geworden ist. Die Löhne wurden jedoch in den vergangenen Jahren nur minimal angepasst», fasst Bertsch zusammen.

Die Armutsgrenze liegt derzeit bei etwas mehr als 3'900 Franken, die eine vierköpfige Familie monatlich zur Verfügung hat. Wobei auch dieser Beitrag in den letzten Jahren nicht angepasst wurde. Will heissen: Weil das Leben teurer geworden ist, bleibt den Familien unter dem Strich immer weniger, um davon leben zu können.

Essen oder Geschenk?

Nach allen Ausgaben wie Krankenkasse, Miete, Strom und Rechnungen sind da nämlich oftmals gerade einmal zwischen 200 bis 300 Franken übrig, die für Lebensmittel reichen müssen – ganze vier Wochen lang. Eine anonyme Stimme erklärt in der Broschüre, dass sie durch ihre drei Arbeitsstellen zwar über die Runden komme. «Ich freue mich, wenn meine Tochter nach Hause kommt und ruft: ‹Mami, ich bin zum Geburtstag eingeladen› und gleichzeitig weine ich innerlich, weil ich weiss, dass ich für den Rest des Monates noch genau 13.20 Franken habe. Der Lohn kommt erst in einer Woche und ich sollte Lebensmittel einkaufen.»

Vielen ergeht es so, sagt Bertsch. «Es ist Wahnsinn, aber die Menschen müssen Lebensmittel über ihre Kreditkarte beziehen und tappen so immer weiter in die Schuldenfalle.»

Zweiter Job

Doch wo müssen die Hebel angesetzt werden, damit sich die Zahlen nicht noch weiter verschlimmern? Einerseits, so Bertsch, müsste der Kantonsrat die Kosten für die Prämienverbilligungen erhöhen – und zwar auf etwa 145 Millionen Franken.

Zudem würden die Familienergänzungsleistungen eine wirtschaftliche Erholung für die Betroffenen bedeuten. Ihnen würde der Ausstieg aus der «Working-Poor-Falle» eher gelingen, als das jetzt der Fall ist. «Kita-Plätze, die bezahlbar und vor allem verfügbar sind, wären ebenfalls nötig», sagt Bertsch.

Viele Leute könnten einen zweiten Job annehmen, wenn sie ihre Kinder betreut wüssten. Doch entweder sind die Plätze so teuer, dass gleich der gesamte Lohn wieder weg wäre. Oder es sind schlicht zu wenig Plätze verfügbar.

Kein Mahnfinger

Daneben könnten weitere Punkte dafür sorgen, dass sich die Situation weiter entschärft – beispielsweise, wenn im Bereich der Sozialhilfe in die Weiterbildung investiert wird. Somit wäre es möglich, Sozialhilfeempfänger wieder in den Ersten Arbeitsmarkt zu integrieren – und entsprechende Kosten könnten wiederum eingespart werden.

«Es wäre eine Win-Win-Situation», sagt Bertsch. «Auch wenn es bedeutet, dass zuerst investiert werden muss.» Den Verantwortlichen ist es ein Anliegen, dass der Bericht nicht verfasst wurde, um Forderungen zu stellen – sondern Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Rahmenbedingungen verbessert werden könnten. Die Unterlagen werden in den nächsten Tagen an die kantonalen und politischen Amtsträgerinnen und Amtsträgern verschickt.

(Bild: PD)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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