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St.Galler Pionierwerk wird 125 Jahre alt

Das St.Galler Volkshaus: Gewerkschafts- und Politzentrale, Kultur- und Genussort mit bewegter Geschichte

1899 wurde das St.Galler Volkshaus erbaut – eines der ersten in der Schweiz. Während Jahrzehnten diente es der st.gallischen Arbeiterbewegung als Sitz und Zentrale. Heute hat es eine bewegte Geschichte hinter sich. Erstmals kann diese dank bisher unbekannten Quellen erzählt werden.

Die Ostschweiz am 11. März 2024

Die Stickereimetropole St.Gallen machte vor dem Ersten Weltkrieg mit mehreren Pionierwerken auf sich aufmerksam – zum Beispiel mit dem Volksbad (1906) oder mit der genossenschaftlichen Eisenbahnersiedlung im Schoren (1909). Dazu zählt aber auch das Volkshaus an der Lämmlisbrunnenstrasse. Es war eines der ersten Volkshäuser der Schweiz, ein Zeuge der aufstrebenden Arbeiterbewegung. 1899 im Rekordtempo von nur einem Jahr erbaut, schrieb es als wichtige politische Institution Stadtgeschichte. Noch heute dient es der grössten Gewerkschaft der Schweiz, der Unia, als Hauptsitz in der Ostschweiz.

Vom Handwerker- zum Arbeitermilieu

Bauherr des Volkshauses war der Allgemeine Arbeiterbildungsverein. Er war in den 1840er-Jahren von deutschen Handwerkern gegründet worden. Bald entwickelte er sich zu einer wichtigen, sozialreformerisch orientierten Bildungsinstitution im Arbeitermilieu.

Der Aufstieg des Vereins begann, als er für seine Mitglieder eigene Bildungs- und Kulturmöglichkeiten wie Turnvereine, Gesangs- und Theatergruppen schuf. Bald kamen soziale Hilfen wie Kranken- und Sterbekassen sowie vor allem eine günstige Verpflegung hinzu. Im noch heute bestehenden Rest. Papagei in der Hinterlauben in der St.Galler Altstadt richtete der Verein 1872 die erste Speisegenossenschaft für seine Mitglieder ein.

Neue Quellen bringen es an den Tag

Der grosse Erfolg veranlasste den Verein in den 1890er-Jahren, den Bau eines eigenen Vereinsheims ins Auge zu fassen. Die Umstände dieser Entwicklung lagen bisher weitgehend im Dunkeln. Im Jahr 2019 aufgefundene Protokollbücher aus jener Zeit erlauben jetzt nähere Einblicke in die Entstehung des Volkshausbaus. Die Finanzierung wurde durch den Verkauf von Liegenschaften an der Moosbruggstrasse möglich.

Unter den in Frage kommenden Standorten schwang schliesslich die Lämmlisbrunnenstrasse obenauf. Durch die Eindolung der Steinach erfuhr dieses Vorstadtquartier in jenen Jahren eine markante Aufwertung. Die Eröffnung des fünfstöckigen Baus mit Restaurant, Sitzungszimmern, Bibliothek, Büros und Wohnungen im Juni 1899 geriet zu einem kleinen Volksfest mit Hunderten von Teilnehmenden.

Gewerkschaften als neue Trägerschaft

Es dauerte aber noch mehr als zwei Jahrzehnte, bis aus dem Vereinshaus ein Volkshaus im Sinne einer gewerkschaftlich-politischen Zentrale wurde. Denn die Arbeitnehmerorganisationen verfolgten lange Zeit eigene Pläne für einen Hauptsitz, die sich aber letztlich alle zerschlugen. 1929 gründeten sie zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei die Volkshausgenossenschaft St.Gallen. Diese übernahm das Vereinshaus vom Arbeiterbildungsverein und stellte es auf eine zeitgemässe Basis. Bis heute hat sich an dieser gewerkschaftlichen Trägerschaft nichts geändert.

Zentrale der politischen Opposition

Das Volkshaus war Mittel- und Ausgangspunkt unzähliger gewerkschaftlicher, sozialer und politischer Kämpfe. Während des Landesstreiks 1918 diente es als Streikzentrale, während der Wirtschaftskrise als soziale Anlaufstelle für Arbeitslose und in den späten 1930er-Jahren als grenznaher Dreh- und Angelpunkt im antifaschistischen Kampf gegen Hitler. Als Sitz des gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Bündnisses genoss das Volkshaus in der Stadt den Ruf als das «Haus der Roten».

In den 1970er-Jahren gesellten sich zur traditionellen Klientel die Neue Linke sowie oppositionelle Gruppierungen aus dem Kreis der italienischen und spanischen Emigration. Später kamen auch Teile der Frauenbewegung sowie die neuen sozialen Bewegungen wie die Anti-AKW-, Antiapartheid- und Ökobewegung hinzu.

Kulturelle Blütezeit

Das Volkshaus erfuhr dadurch eine kulturelle Blüte als Ort von Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, Konzerten und Festen. Darunter sticht der Auftritt der damals noch unbekannten deutschen Hausbesetzerband «Tone Steine Scherben» im Jahr 1972 hervor. Deren Sänger Rio Reiser machte später in Deutschland Karriere. Zu einem viel frequentierten Kulturort wurde das Volkshaus zu Beginn der 1990er-Jahre, als ein Beizenkollektiv die Regie übernahm.

Aufgrund von Zerwürfnissen mit der Volkshausgenossenschaft endete diese Phase nach wenigen Jahren abrupt. Bereits in den 1980er-Jahren war es zu einem vorübergehenden Bruch im langjährigen Bündnis zwischen SP und Gewerkschaften gekommen. Dies mit der Folge, dass das Volkshaus fortan seinen früheren Charakter als gemeinschaftliche Zentrale linker Politik einbüsste.

Sie überstrahlt alle: Angelica Balabanoff

Wurde die Volkshaus-Geschichte weitgehend von Männern geschrieben, so war die wohl herausragendste Persönlichkeit doch eine Frau: Angelica Balabanoff (1876-1965) verdiente ihre Sporen als weltgeschichtliche Figur just in St.Gallen als Gewerkschafterin ab. 1904 deckte sie den Skandal der Arbeiterinnenheime auf, in denen junge Mädchen von Patrons und Ordensschwestern in sklavenähnlichen Verhältnissen gehalten und ausgebeutet wurden.

Balabanoff nahm später als Weggefährtin Lenins an der Oktoberrevolution teil, wandte sich dann aber vom immer autoritärer auftretenden Sowjetregime ab, ohne sich jedoch als Sozialistin untreu zu werden. In ihrem unermüdlichen Kampf für Freiheit, Solidarität und Menschenwürde hätte sie in St.Gallen ein Denkmal verdient.

Ralph Hug, Das St.Galler Volkshaus. Wie es entstand und warum es geblieben ist, Verlag Format Ost, Schwellbrunn, 160 Seiten, ca. CHF 41.–. Bild: PD

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