Werden Kandidierende mit Migrationshintergrund bei Wahlen benachteiligt? Diese These stellen Forscher in den Raum – und die Medien greifen das Thema dankbar auf. Dabei ist die Sachlage weniger eindeutig, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag, erklärt unser Kolumnist.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie verschiedener Politologen zeigt: Kandidierende mit ausländisch klingenden Namen erhalten ungefähr fünf Prozent weniger Stimmen, als andere Kandidierende auf demselben Listenplatz erhalten würden. Da die Parteien Listenplätze gemäss den Forschern häufig nach dem Stimmerfolg vergangener Wahlen vergeben, sind diese Kandidaten in einem Teufelskreis gefangen: Weil sie weniger Stimmen machen, bleiben sie auf den hinteren Listenplätzen kleben und schaffen es so nie nach vorne. Kandidierende auf vorderen Listenplätzen erhalten in der Regel mehr Stimmen.
Dies gilt nicht nur für rechte Parteien, sondern – wenn auch in etwas geringerem Ausmass – für linke Parteien. So viel wieder einmal zur real praktizierten Solidarität der Linken.
Ein gefundenes Fressen für die Medien
Die Studienresultate sind natürlich ein gefundenes Fressen für die Presse. «Kandidierende mit ausländischem Namen werden benachteiligt», titelte die Pendlerzeitung «20 Minuten» unter Berufung auf die «Sonntagszeitung» und meinte: «Auf Zürcher SP- und FDP-Liste sucht man lange.»
Natürlich: Die Medien sind wie immer zürichzentriert, und so hat auch eine vermeintlich national verbreitete Publikation den Namen Arbër Bullakaj noch nie gehört. Doch nicht einmal für Zürich stimmt das Gesagte.
Eine Million Eingebürgerte
Rund eine Million Schweizerinnen und Schweizer sind Eingebürgerte. Ihr Anteil an der Gesamtheit aller Schweizerinnen und Schweizern, und damit ihr Anteil an den Stimmberechtigten, beträgt rund 18 Prozent.
Etwas weniger als ein Drittel davon, also ungefähr fünf Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer, haben familiäre Wurzeln im Balkan, davon sind wiederum etwa die Hälfte – rund zweieinhalb bis drei Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer – ursprünglich albanischer Ethnie. Drei Viertel aller Eingebürgerten stammen aus Europa – über achtzig Prozent, wenn man auch die Türkei zu Europa zählt.
Personen mit Herkunft aus der Türkei machen etwas mehr als ein Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer aus, ebenso Personen mit Herkunft vom afrikanischen Kontinent (will heissen, Schwarzafrika plus Nordafrika) und Asien (ohne Sri Lanka). Ein halbes Prozent aller in der Schweiz ansässigen Schweizerinnen und Schweizer hat familiäre Wurzeln in Sri Lanka.
Auf der Wahlliste ausreichend repräsentiert
Auf der Nationalratsliste der SP des Kantons Zürich findet man Islam Alijaj auf Platz 11 und bei der FDP Përparim Avdili auf dem 15. Listenplatz. Sie liegen damit im vorderen Mittelfeld von insgesamt 36 Kandidierenden im Kanton Zürich.
Der Bevölkerungsanteil von Schweizern mit albanischem Hintergrund ist damit ziemlich repräsentativ abgebildet. Dass Përparim Avdili auf der Liste steht, ist dabei nicht seiner ethnischen Herkunft geschuldet, sondern seiner Position: Er ist Präsident der FDP der Stadt Zürich.
Geradezu als Musterbeispiel für Diversität zeigt sich die Liste der SP.
Platz 2: Jacqueline Badran, geboren in Australien, Vater Libanese
Platz 4: Min Li Marti, Tochter einer Chinesin
Platz 5: Fabian Molina, Vater Chilene
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Hinter dem bereits erwähnten Islam Alijaj findet man noch Nevin Hammad, Reis Luzhnica, Katharina Kiwic, Cafer Sterk, Alfred Ngoyi Wa Mwanza, Maxim Morskoi, Advije Delihasani-Ajdari und Efe Yildiz auf den weiteren Listenplätzen.
Auch wenn nicht alle ausländisch klingenden Namen tatsächlich für eine ausländische Herkunft stehen sollten, sind eingebürgerte oder Personen mit ausländischen Eltern hier sicher nicht unterrepräsentiert.
Bauern im Parlament übervertreten
Es ist eine simple Frage der Mathematik: Sind gewisse Gruppen unterrepräsentiert, sind andere überrepräsentiert. Sehr gut vertreten in der Vereinigten Bundesversammlung ist zum Beispiel die Landwirtschaft: Bauern und verwandte Berufe machen gut ein Achtel aller National- und Ständeräte aus. Deutlich mehr als ihr Bevölkerungsanteil. Damit ist trivialerweise der nicht landwirtschaftliche Teil der Bevölkerung untervertreten. Ohne dass es deswegen Proteste gäbe.
Tatsächlich sind Eingebürgerte und Personen mit Migrationshintergrund in den eidgenössischen Räten unterrepräsentiert: Aufgrund ihres Bevölkerungsanteils stünden ihnen im Nationalrat rund 36 Sitze zu. Effektiv halten sie vielleicht etwa die Hälfte davon.
Zwei Nationalräte türkischer Herkunft
Dabei können einzelne Gruppen durchaus ausreichend repräsentiert sein: Aufgrund ihres Bevölkerungsanteils hätten Schweizer türkischer Abstammung «Anspruch» auf zwei Nationalratssitze. Tatsächlich sitzen mit Sibel Arslan (Grüne) und Mustafa Atici (SP) zwei Personen türkischer Herkunft im Nationalrat.
Man darf aber nicht erwarten, dass das Parlament auch bei ausreichender Repräsentation der verschiedenen zugewanderten Gruppen plötzlich völlig «bunt» würde: Schweizer mit schwarzafrikanische Migrationshintergrund beispielsweise wären mit einem einzigen Nationalrat ausreichend repräsentiert – es braucht dafür nicht gleich eine ganze Fraktion.
Sowieso stammen die meisten Schweizer mit Migrationshintergrund aus Süd- und Westeuropa. Dadurch sind aber auch die Migrationsgeschichten weniger eindeutig: Binationale Ehen sind hier an der Tagesordnung und je nach Konstellation ist der Migrationsstatus der daraus hervorgehenden Kinder ein anderer. Nicht jeder Schweizer mit Migrationshintergrund ist somit ein «reiner» Secondo.
Eine politische Karriere ist eine Ochsentour
Klar ist aber auch: Personen mit Herkunft aus dem Balkan sind in den hiesigen Parlamenten tatsächlich – noch – unterrepräsentiert. Der Grund dafür dürfte sein, dass die Spitze der Einbürgerungen erst vor relativ kurzer Zeit, nämlich vor 15 Jahren, erreicht wurde. Eine politische Karriere ist in der Regel eine Ochsentour – da dauert es oft deutlich länger als 15 Jahre, bis man es erst einmal auf eine Nationalratsliste schafft.
Dass auch dies sich zu ändern beginnt, zeigt die kürzliche Wahl der im Süden Kosovos geborenen Ylfete Fanaj in den Regierungsrat des Kantons Luzern. Kantonsregierungen sind nämlich, noch viel stärker als das nationale Parlament, eine Domäne gutschweizerischer Namen. Nicht etwa Namen, die es so auch im umliegenden Ausland gibt, sondern typisch schweizerisch klingender Namen.
Vor zwölf Jahren in den Kantonsrat
Der Fall von Ylfete Fanaj illustriert gut, warum die politische Integration Zeit benötigt: 2011 wurde sie in den Luzerner Kantonsrat gewählt, als schweizweit erste Person mit kosovarischen Wurzeln. 2015 2019 SP-Fraktionschefin, 2020/2021 Kantonsratspräsidentin.
Das Präsidialamt des Kantonsrats ist ein typisches Sprungbrett für höhere Aufgaben, denn es sorgt kantonsweit für die notwendige Bekanntheit. Bis man aber ein solches Amt erringt, muss man in der Regel einige Legislaturperioden in einem Parlament sitzen. Politische Karrieren dauern somit notwendigerweise etwas länger.
In Basel sitzt die Linke fest im Sattel
Dass beide in der Türkei geborenen Nationalräte aus dem Kanton Basel-Stadt stammen, ist ebenfalls nicht untypisch. In Basel sitzt die Linke derart fest im Sattel, dass sie auch ein Alien aufstellen könnte – und gewählt würde.
Eine politische Karriere verläuft in der Regel etwa so: Zuerst kandidiert man, bezogen auf städtische Gebiete, für ein Gemeindeparlament, selbstverständlich hinter den bisherigen Gemeinderäten. Hat man die Wahl in den Gemeinderat – wahrscheinlich nicht im ersten Anlauf – einmal geschafft, kommt man als nächstes auf die Liste für die Kantonsratswahlen. Wiederum zuerst hinter den Bisherigen. Sitzt man einmal im Kantonsrat, reicht es möglicherweise für einen Platz auf der Nationalratsliste. Wobei man hier wiederum zuerst hinter den Bisherigen anstehen muss.
Keine Frage der Diskriminierung
Dass Schweizer mit Migrationshintergrund in politischen Ämtern untervertreten sind, hat somit erst einmal nichts mit Diskriminierung zu tun. Sondern ist ganz einfach der Tatsache geschuldet, dass für den politischen Aufstieg – und mehr noch für den Aufstieg in höhere Ämter – Sitzleder gefordert ist.
Dabei ist nicht zu vergessen, dass der Einstieg in die Politik überhaupt erst nach der Einbürgerung erfolgen kann. Liegt eine grössere Einbürgerungswelle noch nicht allzu lange zurück, ist es schon aus diesem Grund beinahe unmöglich, dass die entsprechende Bevölkerungsgruppe jetzt schon gemäss ihrem Bevölkerungsanteil repräsentiert wäre.
(Symbolbild: Depositphotos)Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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