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Dies gelesen: Das gedacht:

Der Ball liegt bei der Wirtschaft

Globalisierung und Digitalisierung reduzieren die Freiräume für souveräne, nationalstaatliche Entscheidungen. Neue Fragen brauchen neue Antworten. Wenn es der Wirtschaft nicht gelingt, Systemalternativen zu entwickeln, übernimmt die Politik diese Aufgabe. Am Schluss gibt es nur Verlierer.

Kurt Weigelt am 04. August 2021

Dies gelesen: «Keller-Sutter schockt die Konzernkritiker». (Quelle: Facebook-Post des Vereins Konzernverantwortungsinitiative, 3.7.2021)

Das gedacht: Die Sportradar AG ist eines der wenigen als Unicorn gehandelten Startups der Schweiz. Die in St.Gallen domizilierte Technologiefirma ist globaler Marktführer in der Auswertung und Überwachung von Sportveranstaltungen. In einem Tagblatt-Interview erklärte der Geschäftsführer Andreas Krannich, dass sein Unternehmen ihr System zur Erkennung von Wettbetrug künftig allen Sportverbänden gratis zur Verfügung stellen will. Dies nach eigenen Angaben als Integritätsarbeit und nicht aus wirtschaftlichen Überlegungen.

Die Notwendigkeit dieses Vorgehens erklärte Krannich anhand eines fiktiven Beispiels: «Ein Tennismatch am US Open mit einem Spieler aus Europa, einem Spieler aus Nordamerika und einem Schiedsrichter aus Australien wird durch eine Organisation von irgendwo in Südamerika manipuliert. Wo liegt die Zuständigkeit der Ermittler? Ist es das Tatortprinzip? Ist es dort, wo der Kriminelle physisch sitzt? Ist es dort, wo der fehlbare Spieler oder Schiedsrichter herkommt? Oder ist es dort, wo der betrogene Wettanbieter sitzt? Solche Diskussionen haben wir in der Realität so oft mitgekriegt. Als Quintessenz blieben solche Fälle oft liegen. Auch deshalb ist wichtig, dass zumindest die Sportverbände die fehlbaren Sportler und Funktionäre sanktionieren. Aber natürlich können sie die kriminellen Personen im Hintergrund nicht zur Rechenschaft ziehen.» (Quelle: Tagblatt, 17.2.2021)

Die Initiative von Sportradar steht stellvertretend für zwei grundlegende Erkenntnisse. Erstens: Die Herausforderungen einer digitalen und globalen Gesellschaft sind mit den Institutionen des national aufgestellten Rechtsstaates nicht zu bewältigen. Zweitens: Es braucht Systemalternativen. Die digitale Revolution findet ausserhalb des Politischen statt. Erkenntnisse, die beispielsweise bei den Auseinandersetzungen rund um die Konzernverantwortungsinitiative hilfreich gewesen wären.

Echtes Problem

Blicken wir zurück. Im Jahre 2020 bewegte ein von beiden Seiten aggressiv geführter Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative die Schweiz. Ziel der Initiative war es, Schweizer Unternehmen weltweit für Verstösse gegen Menschenrechte oder international anerkannte Umweltstandards in der Schweiz zur Verantwortung zu ziehen. Obwohl die Initiative 50,7 Prozent Ja-Stimmen erzielte, scheiterte sie am Ständemehr.

Die Schwachstellen der Initiative wurden breit diskutiert. Dazu gehörte der letztlich missionarische Anspruch, Schweizer Gerichte über die Behörden und Gerichte in Drittländern zu stellen. In Erinnerung bleiben wird auch die Konsequenz, mit der die Initianten die von ihnen beanspruchte moralische Überlegenheit mit einer in vielfacher Hinsicht fragwürdigen Propagandamaschine selbst zerstörten.

Aktuell läuft die Vernehmlassung zur Umsetzung des indirekten Gegenvorschlags des Parlaments. Und bereits wieder läuft die Empörungsindustrie auf Hochtouren. Dazu gehören unverändert, wie der eingangs zitierte Facebook-Post zeigt, persönliche Angriffe auf die zuständige Bundesrätin. Der Zweck heiligt die Mittel.

Dies alles ändert jedoch nichts daran, dass die Konzernverantwortungsinitiative ein echtes Problem auf die politische Agenda setzte. Verfehlungen von transnationalen Konzernen ist mit nationalstaatlichen Regulierungen nicht beizukommen. Globale wirtschaftliche Macht relativiert nationale Handlungsoptionen. Dazu gehören auch die Steueroptimierungsstrategien weltweit tätiger Konzerne.

Neue Fragen brauchen neue Antworten

Globalisierung und Digitalisierung reduzieren die Freiräume für souveräne, nationalstaatliche Entscheidungen. Die Entgrenzung von Ökonomie, Gesellschaft und Kultur untergräbt Koordinatensysteme, die auf territorialer Grundlage errichtet wurden. Diese Entwicklung lässt sich nicht dadurch korrigieren, dass künftig das Bezirksgericht Bülach über vermutete Verfehlungen in Nigeria urteilt.

Untauglich aber auch die Verlagerung der Sanktionskompetenzen an internationale Organisationen. Hier dominieren politische Erwägungen, es gilt das Recht des Stärkeren. Vertreter von Grossmächten werden nie akzeptieren, dass ein bedeutendes Unternehmen aus der eigenen politischen Interessensphäre sanktioniert wird.

Neue Fragen brauchen neue Antworten. Im indirekten Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative ist es das gewohnte bürokratische Ritual einer perfektionierten Berichterstattung. Eine Beruhigungspille, die Heerscharen von Beratern beschäftigt, im Ziel aber kaum Wirkung entfalten wird.

Kooperation statt Konkurrenz

Der Ball liegt vielmehr bei der Wirtschaft und damit bei den Konzernen selbst. An ihnen liegt es, Lösungen für die durch die Globalisierung entstandenen Herausforderungen zu finden. Die Sportradar AG macht es vor. Vergleichbares muss bei der Konzernverantwortung gelingen. Eine solche Lösung kann in der Konstituierung von weltweit tätigen, politisch und staatlich unabhängigen Schiedsgerichten bestehen, die bei vermuteten Menschenrechtsverletzungen und Umweltvergehen von den Betroffenen und ihren Vertretern angerufen werden können.

Unter den heutigen Voraussetzungen ist dies nicht viel mehr als Wunschdenken. Die Ausrichtung auf Quartalsergebnisse, auf Boni und die kurzfristige Optimierung des Börsenkurses lässt in Konzernen wenig Platz für langfristig angelegte Reformprojekte. Zudem funktioniert das Ganze nur, wenn sich die entscheidenden Player einer Branche zusammenfinden. Kooperation statt Konkurrenz. Ein Paradigma, das vielen Unternehmen fremd ist.

Nur, machen wir uns nichts vor. Wenn es der Wirtschaft nicht gelingt, Systemalternativen zu entwickeln, übernimmt die Politik diese Aufgabe. Wer sich nicht bewegt, wird bewegt. Was dies bedeutet, zeigte beispielhaft die Auseinandersetzung rund um die Konzernverantwortungsinitiative. Am Schluss gab es nur Verlierer.

(Bild: Gerd Altmann auf Pixabay)

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Autor/in
Kurt Weigelt

Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.

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