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Dies gelesen: Das gedacht:

David vs. Goliath

Die Bauernlobby steckt in der PR-Falle. Mit ihrer Propagandamaschine weckt sie Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann. Die Diskrepanz von Schein und Sein kostet Vertrauen, macht angreifbar.

Kurt Weigelt am 14. Mai 2021

Dies gelesen: «Plakate sind aber nur eine Massnahme der Kampagne von „Schweizer Bauern“. Diese umfasst zahlreiche weitere Elemente wie den 1. August-Brunch, Messeauftritte, Stallvisite, Schule auf dem Bauernhof, die Direktvermarktungsplattform „Vom Hof“, das Online-Videoportal „BuureTV.ch“, Social Media und Internetauftritt, Mini-Broschüren sowie Werbeartikel und den Shirtshop im Edelweiss-Look. (Quelle: Schweizer Bauernverband)

Das gedacht: Die Bauernlobby beglückt die Schweizer Bevölkerung tagaus tagein mit einer eindrücklichen PR-Lawine. Und dies aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Es geht um Milliarden. Die Landwirtschaft kassiert jedes Jahr 2,8 Milliarden Franken an Subventionen und Direktzahlungen. Darüber hinaus gibt es rund 470 Millionen Franken für die Produktions- und Absatzförderung und weitere 440 Millionen Franken für Strukturverbesserungen und soziale Massnahmen. Auf rund 3,7 Milliarden Franken belaufen sich laut OECD die von den Konsumenten und Unternehmen zu bezahlenden Preisaufschlägen auf landwirtschaftliche Produkte. Hinzu kommen die verpassten Chancen des Schweizer Exportsektors aufgrund nicht abgeschlossener Freihandelsabkommen, die der Bauernverband blockiert. Abschottung hat ihren Preis.

Dies alles verkauft uns die Bauernlobby mit dem ewig gleichen Bild vom glücklichen Bauern, der auf glücklichen Wiesen seine Kühe glücklich macht. Die Bauernfamilie als die lebens- und liebenswerte Antithese zur modernen Schweiz, als perfekte Verkörperung des Schweizeralpenlands. Allerdings hat man inzwischen die Bauernhoftiere in Edelweisshemden und das Kreuz im Logo der nationalen PR-Kampagne entsorgt. Dem Zeitgeist entsprechend heisst es jetzt: «Von hier, von Herzen». Regionalität ist das neue Zauberwort. Dazu gehört die unendliche Geschichte von der Ernährungssouveränität. Auch die Marketingkonzepte der Bauernlobby gehen mit der Zeit.

Dumm nur, dass diese Erzählungen mit der Realität der modernen Landwirtschaft wenig zu tun haben. Im Toggenburg begegnet man Traktoren, gefühlt so gross wie Einfamilienhäuser. In der industriellen Tierproduktion fallen jedes Jahr weit über 20 Millionen Tonnen Gülle und Mist an. Ohne den Einsatz von Pestiziden geht im Ackerbau kaum etwas. Beides, Gülle und Pestizide, belasten das Grundwasser. Für die Ernte kommen Helfer aus Polen. Das glückliche Schweizer Huhn ist ein im Ausland gezüchteter Hybrid. Hochleistungsmilchkühe produzieren bis zu 12'000 Liter Milch pro Jahr. Dies alles nicht als Folge verantwortungsloser Bauern, sondern als Folge der Erwartungen einer preissensiblen Kundschaft und grenzüberschreitender Warenströme.

Darüber kann man und muss man diskutieren. Die Bauernlobby steckt jedoch in der PR-Falle. Mit ihrer Propagandamaschine weckt sie Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann. Die Diskrepanz von Schein und Sein kostet Vertrauen, macht angreifbar. Heute können wir dank den sozialen Medien mit unseren Botschaften kostenlos und zeitverzugslos Millionen von Interessierte auf der ganzen Welt erreichen. Dies gilt für jede einzelne Bürgerin und für twitternde Staatspräsidenten. Von Aktivistinnen gedrehte und ins Netz gestellte Videos von Tierfabriken und Tiertransporten rütteln auf. Neue politische Bewegungen bilden sich spontan, ohne grosse Organisation, ohne langfristige Strukturen und ohne Hierarchien. Das traditionelle politische Orientierungssystem verliert an Integrations- und Überzeugungskraft. Dies gilt auch für den Bauernverband. Gegen die Kraft sozialer Medien ist kein Kraut gewachsen. Da helfen auch keine Pestizide.

Franziska Herren hat die Trinkwasserinitiative praktisch im Alleingang lanciert. Heute treibt sie alle vor sich her, so die NZZ: die über 240 Beamten beim Bundesamt für Landwirtschaft, die 2000 Agrarbeamten in den Kantonen, den mächtigen Schweizer Bauernverband, die Chefetage des 7-Milliarden-Agrarkonzerns Fenaco, die 50 000 Bauern der Schweiz. David vs. Goliath. Allerdings, heute ist David eine Frau. Als Waffe ersetzt das Internet die Steinschleuder. Geblieben ist einzig Goliath. Die Bauernlobby, mächtig, unbeweglich.

Machen wir uns keine Illusionen. Der Bauernverband wird im Parlament und an der Urne noch manche Abstimmung gewinnen. Der grösste Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorteile in Form von Subventionsmilliarden zieht. Der Wandel der Zeit lässt sich jedoch nicht aufhalten. Die Bedeutung der Parteien und die Zahl der Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die sich vom Bauernverband unter Druck setzen lassen, befinden sich im Sinkflug. Die Anbauschlacht des zweiten Weltkriegs verabschiedet sich still und leise aus der kollektiven Erinnerung. Wer sich nicht bewegt, wird bewegt. Dies gilt auch für die Landwirtschaftspolitik. Die Blockaden des Bauernverbandes sind ein riskantes Spiel mit der Zukunft. Vor allem mit der Zukunft der Bäuerinnen und Bauern in der Schweiz.

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Autor/in
Kurt Weigelt

Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.

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