Vor 30 Jahren, am 22. September 1993, starb der Schweizer Journalist, Schriftsteller und Historiker Niklaus Meienberg (1940-1993) – Der Psychiater Mario Gmür und sein prominenter Patient Niklaus Meienberg.
Niklaus Meienberg ist um 1990 in seiner schriftstellerischen Laufbahn in einer Krise. Eine schwere Depression zwingt ihn dazu, sich in psychoanalytische Behandlung zu begeben. Der Arzt seiner Wahl ist der Zürcher Psychiater und Psychotherapeut Dr. Mario Gmür. Dieser veröffentlicht nun mit zeitlichem Abstand erstmals freimütig seine Eindrücke vom Umgang mit dem prominenten Patienten, der am 22. September 1993, also vor 30 Jahren, den Freitod wählte.
Der St.Galler Niklaus Meienberg veröffentlichte zehn Bücher zur Zeitgeschichte. Diese haben massgeblich zur öffentlichen Meinungsbildung der Schweiz im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts beigetragen. Meienberg polarisierte, um mit seinen zeitkritischen Arbeiten Aufmerksamkeit zu erregen. Das gelang ihm.
Im Gegenzug wurde er von Exponenten aus Politik und Wirtschaft schärfstens attackiert. Niklaus Meienberg, äusserlich ein imposanter Mann, konnte nicht verstehen, dass sein Einstehen für Recht und Wahrheit (man denke an «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.») auf wenig Gegenliebe stiess. Zunehmende Existenzschwierigkeiten lösten bei ihm Depressionen aus. Er suchte Hilfe in Mario Gmürs Zürcher Privatpraxis. Der Facharzt für Psychiatrie realisierte sofort, dass der gefürchtete Reporter und bekannter Schriftsteller suizidgefährdet war.
Meienbergs Lebenskrise – «Er war ein Luxus-Teddybär»
Die Gründe für dessen Lebenskrise waren vielfältig. Im Kern liessen sie sich auf mehrere Konfliktfelder eingrenzen, schreibt der Psychiater Mario Gmür (78) in seinem neuen Buch «Ein Psychiater erinnert sich an einen Anstössigen. Gedanken über Niklaus Meienberg» (Edition Signathur, Dozwil TG). Seine Erinnerungen an den berühmten Patienten notierte Gmür schon 1998 auf einer Reise in Argentinien, entschloss sich aber erst kürzlich, sie zu veröffentlichen.
Problematisch für Niklaus Meienberg war nicht zuletzt ein Dreiecksverhältnis mit einer Gymnasiallehrerin und einer Juristin. Als Künstler von Rang war Meienberg ein Luxus-Teddybär, bot aber (solange er keine Bestseller produzierte) keine Sicherheit. Er war der Meienberg fürs Bett. Eine Beziehung ging in Brüche. Gmürs Erkenntnis: «Liebeskummer und Eifersucht sind die einzigen Krankheiten, die die Psychiatrie nicht behandeln kann. Es käme einer Hybris gleich, wäre es anders.»
Drei Schläge, die ihn trafen
Dann kamen drei Schläge, die Meienberg empfindlich trafen: Ein Motorradunfall in Südfrankreich mit Schädeltrauma. Hinterher, im September 1992, ein Überfall auf der Eisfeldstrasse in Zürich-Oerlikon von «zwei dunklen Typen» spät abends auf dem Nachhauseweg. Meienberg lag am Boden und wurde mit Fusstritten traktiert. Gmür: «Er war überzeugt, aus politischen Gründen von gedingten Killern niedergeschlagen worden zu sein als Rache für einen polemischen Artikel. Er sollte demoralisiert, als Reporter ausser Gefecht gesetzt werden.» Von den Folgen dieses Überfalls erholte er sich nicht mehr.» Ausserdem publizierte Feuilletonredaktor Andreas Breitenstein in der NZZ eine gnadenlose Disqualifikation seines literarischen Werkes.
Arzt und Patient – «Ich witterte eine Günther Wallraff-Methode»
Als Patient war Niklaus Meienberg war ein vielschichtiger, schwer zu greifender Charakter. Sein Psychiater witterte eine Günther Wallraff-Methode. Vielleicht spielte er nur den Depressiven und erforschte die Psychiatrie?
Meienberg hätte die Veröffentlichung gewollt
Interessant ist auch die Frage, ob ein Arzt – auch wenn es nun posthum geschieht – so etwas über einen Patienten veröffentlichen darf. Mario Gmür nimmt die Pressefreiheit für sich in Anspruch und sichert sich am Schluss seines Texts damit ab, Niklaus Meienberg hätte die Veröffentlichung gewollt: «Das ärztliche Geheimnis gilt absolut. Ich höre die Stimme von Meienberg: ‹Da muesch unbedingt publiziere!›»
Es war allgemein bekannt, dass der Golfkrieg im Irak in Meienberg schwerste Befürchtungen ausgelöst hatte. Um Schlimmeres zu vermeiden, mobilisierte er Freunde, Bekannte und Behörden in einer Art und Weise, dass er von den Opfern für geisteskrank gehalten wurde. Er war überzeugt, ihm und der Welt stünden apokalyptische Ereignisse bevor. Dr. Gmür: «Ich machte mich also gefasst darauf, dass die Frage der diagnostischen Beurteilung auf mich zukommen würde. Manisch? Paranoid? oder gar nichts?»
Er kam pünktlich. Auch später, er kam immer pünktlich. «Er war der Inbegriff der Verlässlichkeit.»
«Er erzählte, wie schlecht es ihm jetzt gehe.»
«Er kam das erste Mal abends und erzählte, wie schlecht es ihm jetzt gehe. Er war zutraulich und offen.»
Meienbergs Symptome entsprachen dem, was man diagnostisch als Depression etikettiert. Er klagte über depressive Verstimmungen, Schlafstörungen, Arbeitsstörungen, Verlangsamung des Denkens und Suizidimpulse, schreibt Dr. Gmür. Weil er an Suizid dachte, war auch seine Freundin beunruhigt.
Der weitere Verlauf gab dem Therapeuten schon bald die Gewissheit, dass die Depression von Meienberg existentieller Art war und nicht endogen. Sein Zustand erwies sich schnell als schwankend. Abhängig von der Wetterlage seines Lebens.
Geld und Neid – Er war ein journalistischer Tagelöhner
Meienberg kannte als Reporter und Schriftsteller existentielle Nöte. Er war ein journalistischer Tagelöhner. Gmür: «Sein Konto bewegte sich um Null. ‹Saldo mortale›. Es gibt Persönlichkeiten ohne Geld und Begüterte ohne Persönlichkeit. Er gehörte zu den Ersteren. Hätte er ein finanzielles Polster gehabt, er hätte sich trotz Liebeskummer nicht suizidiert.»
Er lebte von Aufträgen, er war der einzige Künstler, der als Persona non grata begehrt, «Persona gratissima» war. Als Journalist umworben. Nur als Gast akzeptabel, nicht als Mitbewohner. Ein Diskriminierungsopfer von hohem Niveau. Er war gefragt auf Abruf, aber nicht eingebürgert, schreibt Gmür. Während seiner Behandlung schrieb Niklaus Meienberg unentwegt weiter, auch Gedichte. Wenn er Reportagen verfasste, pflegte er, ohne sich zur Ruhe zu legen, 24 Stunden ununterbrochen an einer Arbeit zu schreiben.» Er hob hervor, dass er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen kein Suchthaufen sei. Nicht er war unmöglich. Die anderen.
Eine Bereicherung aus der Optik eines Klassenkameraden stellt der im neuen Buch beigegebene Bericht von Hans Peter Vieli (Genossenschaft Ropress, Zürich) dar, der auch Fotos aus der Disentiser Zeit zur Verfügung stellt.
«Er sprach eher wie ein Handwerker oder Gärtner»
«Es stimmt halt, was er geschrieben hat», hat Max Frisch einmal über seinen Freund Meienberg gesagt. Dem kann auch sein Psychiater beipflichten. Gmür: «Er sagte nie etwas, das blöd, falsch, unsinnig, geschmacklos war. Er sprach nie gewählt, geschwollen, gehoben, sondern immer in einer einfachen Sprache eines auf Ausdrucksqualität nicht besonders bedachten Mannes aus dem Volk, der sich bemüht, ohne Schmuck.
Es war nichts Elaboriertes und nichts Rhetorisches in seiner Sprache. Er sprach eher wie ein Handwerker oder Gärtner, der die Sprache nur als Gebrauchsartikel, also Vehikel für den Transport seiner Erinnerungen und Gedanken benutzt. Er war nie auf treffende Formulierungen bedacht, eher auf Genauigkeit. Er war die Sachlichkeit in Person. Die Unbeholfenheit schweizerischer Art korrigierte er nicht. […].»
«Er wurde privat als Stinktier gehandelt, und das drängte ihn in den Tod.»
Das Schreiben fiel dem Starreporter nicht so schwer, also die Schreibarbeit. Die Technisierung, Computerisierung, Textverarbeitungsrevolution hatte er nicht mitgemacht. «Er schrieb von Hand und auf Schreibmaschine. Er fühlte sich diesbezüglich gegenüber wendigen und modernen Kollegen der Schreibkunst im Hintertreffen und von geringeren Schreibkollegen bedroht.»
«Ich konnte bei ihm keinen Selbstzweifel an seiner Schreibkunst, an der Qualität seiner Erzeugnisse, erkennen. Aber er hatte ein grosses Akzeptanzproblem, und das war sein einziges Problem. […] Er fühlte sich schlecht, weil er ausgestossen war, als Aussätziger. Nicht von der Öffentlichkeit, sondern von seinen engsten politischen Freunden/innen. Er wurde privat als Stinktier gehandelt, und das drängte ihn in den Tod.» – Niklaus Meienberg nahm sich in der Nacht auf den 22. September 1993 das Leben. Mario Gmür: «Er genehmigte sich einen Suizid.»
Information/Bibliografie: Mario Gmür: «Ein Psychiater erinnert sich an einen Anstössigen. Gedanken über Niklaus Meienberg.» 76 Seiten. Taschenbuch. Haupttext von Mario Gmür. Dazu der Beitrag «Erinnerungen eines Klassenkameraden an Niklaus Meienberg» von Hans Peter Vieli. Dozwil TG: Edition Signathur, 2023. Mehrere Abbildungen, einige aus den Bildarchiven ehemaliger Klassenkameraden an der Klosterschule Disentis GR. Broschur. Preis: 18 CHF/Euro €. ISBN 978-3-906273-51-8.
Zur Person Mario Gmür
Die Mutter russisch-jüdische Kommunistin, der Vater, der Journalist und Politiker Harry Gmür, 1944 Mitbegründer der Partei der Arbeit der Schweiz und Redaktor beim Parteiblatt «Vorwärts»: Unter diesen Vorzeichen wuchs Mario Gmür im Kalten Krieg in Zürich auf, wo er 1945 geboren wurde. Er studierte in Genf und Zürich Medizin.
Danach liess er sich zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie als Psychoanalytiker (Freudianer) ausbilden. Gmür veröffentlichte zahlreiche Bücher, unter anderen «Der öffentliche Mensch» (2002), »Die Unfähigkeit zu zweifeln» (2006) und «Das Medienopfersyndrom» (2007). 2013 erschien im Salis-Verlag der Erzählband «Meine Mutter weinte, als Stalin starb».
Als Buchautor setzte Gmür sich anhand so unterschiedlicher Beispiele wie Leo Tolstoi, Rudolf Höss, Mahatma Gandhi oder Ulrike Meinhof mit der Psychopathologie von Überzeugungen auseinander, analysierte die Boulevardisierung der Medien und kreierte den Begriff des Medienopfersyndroms. Zuletzt meldete er sich vor allem als pointierter Kritiker der forensischen Psychiatrie zu Wort. In der Edition Signathur sind bereits zwei Bücher von ihm erschienen.
Gmür wirkte lange als Dozent an der Universität Zürich. Er ist Gründer des Museums «gleichundanders», ein Kuriosum, in Leukerbad VS (https://museumgleichundanders.ch). PD Dr. med. Mario Gmür war lange Dozent an der Universität Zürich. (uok)
Zur Person Niklaus Meienberg
Niklaus Meienberg, geboren am 11.5.1940 in St. Gallen, gestorben am 22.9.1993 in Zürich, war Journalist, Schriftsteller und Historiker. Sohn des Alois und der Maria Bertha geborene Geiges. Ledig. Nach dem Gymnasium in der Klosterschule in Disentis GR studierte Meienberg Geschichte in Fribourg, Zürich und Paris. Die Studienzeit schloss er mit einer Lizentiatsarbeit über Charles de Gaulle ab.
Ab 1966 arbeitete er als Pariser Korrespondent der «Weltwoche», ab 1971 war er Mitarbeiter des «Tages-Anzeiger Magazins» sowie verschiedener Printmedien, Radio- und Fernsehanstalten. 1982/83 Pariser Korrespondent der deutschen Illustrierten «Stern», danach freier Schriftsteller. Niklaus Meienberg trat sowohl als scharfzüngiger Kritiker, wie auch als sensibler Beobachter in der Öffentlichkeit in Erscheinung.
Die Spannbreite seines Schaffens reicht von der sozialkritischen Reportage bis hin zur Liebeslyrik. Verschiedene Preise, unter anderem Zürcher Journalistenpreis, Max-Frisch-Preis, St. Galler Kulturpreis. Sein Nachlass befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. (uok)
Ein stiller und engagierter Schaffer: Bruno Oetterli Hohlenbaum (80), seit 1996 Verleger in Dozwil TG
Zu Meienberg: «Er verdient es, dass man sich an ihn erinnert»
«Er verdient es, dass man sich an ihn erinnert», schreibt Bruno Oetterli Hohlenbaum im Vorwort zum Meienberg-Buch. Es ist der 148. Band seiner Edition Signathur in Dozwil. Der Thurgauer Verlag wurde 1996 auf Schloss Eppishausen bei Amriswil gegründet, das die deutsche Dichterin Annette von Droste-Hülshoff oft besuchte. Oetterli, in Schaffhausen geboren und aufgewachsen, lebt seit 1971 im Kanton Thurgau.
Er studierte Deutsch, Englisch, Französisch und Geschichte in Zürich und war bis zu seiner Pensionierung Sekundarlehrer in Dozwil hoch über dem Bodensee. Bruno Oetterli: «Meienberg polarisierte, um mit seinen zeitkritischen Arbeiten Aufmerksamkeit zu erregen.» In der Edition Signathur sind bereits zwei Bücher des Zürcher Autors, Psychiaters und Sammlers Dr. Mario Gmür erschienen. (uok)
(Bild 1: Meienbergsche Parkfontäne: Niklaus Meienberg am 13. März 1991 im Park von Schloss Eugensberg in Salenstein TG hoch über dem Untersee. (Foto: © Urs Oskar Keller))
(Bild 2: Der Verleger Bruno Oetterli Hohlenbaum (80). Er gründete 1996 die Edition Signathur in Dozwil TG. (Foto: © Urs Oskar Keller))
(Bild 3: Der Buchautor Dr. med. Mario Gmür (78). Er ist Psychiater in Zürich und behandelte Niklaus Meienberg. (Foto: PD))
_(Bild 4: Hans Peter Vieli, Schulfreund von Niklaus Meienberg in der Benediktiner-Klostersschule Di_sentis GR. Seine Erinnerungen wurden erstmals veröffentlicht. (Foto PD))
(Bild 5: Niklaus Meienberg mit Gerte. Die Aufnahme entstand bei einem Besuch am 13. März 1991 im Schloss Eugensberg von Rolf Erb in Salenstein TG, das gerade renoviert wurde. (Foto: © Urs Oskar Keller))
Urs Oskar Keller (*1955) ist Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Landschlacht.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.