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Polemik

Die Viehschau: Wo Tierwohl vorgegaukelt, aber Tierleid verursacht wird

Viehschauen sind so schön: Die Kühe mit ihren Glocken laufen der Strasse lang, sie sind blumenreich geschmückt und stehen später in Reih und Glied auf dem Platz. Die Zuschauer, die Bauern, die Viehhändler, die Sennen, sie lachen um die Wette. Und die Tiere leiden still. Eine Polemik.

Martina Signer am 05. September 2019

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Die Viehschau. Ein Volksfest mit viel Brauchtum und Tradition. Sie sind so schön und so voller Pracht, dass sie überdecken, was den Tieren angetan wird. Denn was der Laie nicht sieht und der Experte verschweigt ist das Tierleid, welches Viehschauen jährlich verursachen. Ich bin weder Laie noch Experte, sondern etwas dazwischen. Als Lokaljournalistin habe ich über dutzende Viehschauen jährlich berichtet, und was ich hinter den Kulissen teilweise gehört und gesehen habe, liess mir die Haare zu Berge stehen.

Wo fange ich an? Bei der Auffuhr, an denen teilweise hunderte Zuschauer die Strassen säumen? Glauben die wirklich alle, für die Kühe sei es eine angenehme Abwechslung, vom Stall plötzlich nicht auf die Weide zu laufen, sondern teilweise etliche Kilometer auf Betonstrassen zurückzulegen? Insbesondere, wenn beim kleinsten Ausbrechen einzelner Tiere aus der Formation sofort der Mensch mit dem Holzstecken um sich schlagend heraneilt? Nein, wenn Kühe plötzlich in einer Kurve losrennen und auf dem Mist der vor ihnen hergetriebenen Kühe ausrutschen, ist das ganz sicher alles andere als angenehm. So schon mehrmals gesehen auf der Kreuzung in Mosnang, wenn es wieder mal Zeit für die Viehschau war.

Aber eigentlich fängt es ja schon früher an mit dem Tierleid. Dann nämlich, wenn der Bauer Stunden früher aufsteht als üblich, um zu melken. Was für die Kühe im Moment zwar noch kein unmittelbares Leid darstellt, wird gegen Abend unerträglich. Ein prall gefülltes Euter, das nicht nur Schmerzen verursacht, sondern auch gesundheitliche Schäden nach sich ziehen kann. Insbesondere dann, wenn die Euter für die Schau mit Sekundenleim oder Kollodium zugeklebt sind. Damit auch ja keine Milch austritt und der Experte ein zum Bersten gefülltes Euter begutachten kann. Glauben Sie nicht, das sei ein Ammenmärchen mit den zugeklebten Zitzen. Besuchen Sie die Toggenburger Herbstschau und bequemen sie sich mal in eine gebückte Haltung, wenn sie neben der mit A oder E gekennzeichneten Kuh stehen. Diese Kühe, mit einem A auf dem Allerwertesten sind in der engeren Auswahl für den Missentitel. Das E steht dafür, dass ein Preis in der Kategorie «Schöneuter» wahrscheinlich ist. Für diesen Titel leidet die Kuh, sie hat nichts davon. Ausser Schmerzen.

Zugegeben, an Gemeindeviehschauen fällt so etwas seltener auf. Nur besonders ehrgeizige Züchter, die sich nicht um das Wohl ihrer Tiere scheren, sondern einzig und allein auf Prestige aus sind, verkleben schon hier die Zitzen ihrer Kühe. Schliesslich will man es ja weit bringen. An die oben bereits erwähnte Toggenburger Herbstschau in Wattwil beispielsweise. Dass nach dem Ende der Schau in Wattwil Melkstationen zur Verfügung stehen, mag vielleicht den Laien täuschen und vorgaukeln, dass den Tiere, die viel zu früh gemolken wurden, hier so schnell wie möglich Erleichterung verschafft wird. Dafür ist es aber an dieser Stelle schon zu spät. Ausserdem wird hier auch nicht das ganze Euter geleert, sondern nur der «Überdruck» abgelassen. Aber immerhin.

Wenn die Wahl dann vorbei ist und der Züchter mit stolz geschwellter Brust und nach Anerkennung heischend in die Runde blickt, ist das Tierleid noch lange nicht vorbei. Die Kühe, die teilweise den ganzen Tag ohne ausreichend mit Wasser versorgt worden zu sein in der prallen Sonne standen, von den Platzhelfern mit Kugelschreibern in den Hintern gestochen wurden, damit sie auch ja genau richtig stehen, wenn der Experte vorbeischaut und auch nichts zu fressen bekommen haben, müssen jetzt mit unnatürlich angeschwollenen Eutern den Heimweg antreten. Ich weiss von einer Bäuerin, die lange Zeit mit mir befreundet war, dass die Tiere ihres Mannes mit blutigen Klauen auf den heimischen Hof zurückkehrten, nachdem sie erneut mehrere Kilometer auf geteerter Strasse unterwegs waren.

Das alles nimmt der Bauer in Kauf. Und wofür? Für ein lobendes Klopfen auf die Schulter. Für unverhohlen neidische Blicke der anderen Züchter. Und für Wanderpreise. Und wenn für die Tiere im heimischen Stall endlich wieder so etwas wie Normalität einkehrt, putzt sich ihr Besitzer heraus und lässt sich am Schauabend hochjubeln. Keinen Gedanken verschwendet er daran, dass sich am Euter seiner Miss vielleicht gerade ein Ödem breit macht.

Und auch sonst scheint keiner genauer hinzuschauen. Die sogenannten Experten, die die Tiere bewerten, sollten doch wissen, was vor sich geht. Sie schauen bestimmt genauer hin als die Lokaljournalistin. Von wegen. Sie sehen das alles und nehmen es billigend in Kauf. Der ganze Reigen aus Züchtern, Organisatoren, Ring-Richtern und Experten weiss genauestens Bescheid darüber, wie es an Viehschauen zu und her geht. Das Tierleid blenden sie dabei komplett aus.

Das hier ist die Wahrheit über Viehschauen. Tierquälerei unter dem Deckmantel eines Volksfestes. Brauchtum und bunter Blumenschmuck können für mich schon lange nicht mehr darüber hinwegtäuschen.

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Autor/in
Martina Signer

Martina Signer (*1988) aus Mosnang ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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