Durch die Verknüpfung einer Absicherung gegen plötzlich auftretende Kosten mit einem erleichterten Zugang zu fast kostenlosen Leistungen werden unerwünschte Anreize für Mehrausgaben geschaffen, meint unser Autor.
Die Krankenkassenprämien steigen und steigen. Dies vermag nicht zu verwundern: Immer mehr Leistungserbringer tun sich an den Honigtöpfen des Gesundheitswesens gütlich. Da ein grosser Teil der Versicherten kaum mehr als zehn Prozent der effektiven Gesundheitskosten selber bezahlen muss, besteht auch von dieser Seite her wenig Anreiz, Kosten zu sparen.
Als ein Anreiz zum Sparen wurden seinerzeit die Wahlfranchisen eingeführt. Die Krankenversicherten haben heute die Wahl zwischen sechs verschiedenen Franchisenstufen (300, 500, 1000, 1500, 2000 und 2500 Franken). Dabei wird für die höchste Franchisestufe ein Prämienrabatt von maximal 1540 Franken pro Jahr auf die Prämie der KVG-Grundversicherung gewährt.
77 Prozent wählten Minimal- oder Maximalfranchise
Für erwartete Gesundheitskosten von weniger als 2000 Franken ist es für eine versicherte Personen ohne Prämienverbilligung optimal, die höchste Franchise von 2500 Franken zu wählen – bei erwarteten Gesundheitskosten von mehr als 2000 Franken ist hingegen die ordentliche Franchise von 300 Franken aus Sicht der Versicherten am besten.
Die vier dazwischen angesiedelten Prämienstufen sind für solche Versicherte dagegen nie optimal. Entsprechend wählten im Jahr 2021 (das neueste Jahr, für das entsprechende Daten vorliegen) vernünftigerweise 77 Prozent aller Versicherten entweder eine Minimal- oder eine Maximalfranchise. Für Franchisen im mittleren Bereich entschieden sich nur 23 Prozent aller Versicherten.
Eingesparte Prämienausgaben
Die Frage ist nun, warum sich immerhin 23 Prozent der Versicherten für eine ökonomisch suboptimale Franchise entscheiden. Ein Grund dafür sind kantonale Prämienverbilligungen: In vielen Kantonen übersteigt die maximal ausgerichtete Prämienverbilligung die günstigste Prämie bei einem Selbstbehalt von 2500 Franken. Damit können sich Versicherte, welche nicht von hohen Gesundheitskosten ausgehen, quasi gratis eine tiefere Franchise und somit weniger (Rest-)Risiko leisten.
Ein anderer Grund, eine solche auf den ersten Blick suboptimale Prämie zu wählen ist Risikoaversion: Person fürchten sich, im schlechtesten Fall auf einen Schlag 2500 Franken zu bezahlen. Natürlich würde es der maximale Prämienrabatt von 1540 Franken bei einer Franchise von 2500 Franken erlauben, in zwei Jahren ohne Einschränkungen der Lebensführung über 3000 Franken anzusparen, mit denen im Fall des Falles Franchisekosten von 2500 problemlos bezahlt werden könnten.
Die Bedingung dafür ist aber, dass die monatlich eingesparten Prämienausgaben tatsächlich gespart und nicht ausgeben werden. Doch dies fällt vielen Personen bekanntlich schwer: Die Wahl einer mittleren Franchise drückt somit einerseits den Willen aus, Gesundheitskosten zu sparen und andererseits die Furcht vor der Verpflichtung, plötzlich einen grösseren Geldbetrag bezahlen zu müssen.
Kombination mit einem höheren Risiko
Tatsächlich zeigt sich dieser Sparwille klar in der Höhe der Gesundheitskosten der Versicherten: So betragen diese bei Personen mit einer Franchise von 1000 Franken je nach Versicherungsmodell nur rund 40-50% derjenigen von Personen mit einer Minimalfranchise von 300 Franken und bei einer Franchise von 1500 Franken gar nur zwischen einem Viertel und einem Drittel.
Leider ist der in Zeiten nicht enden wollender Kostensteigerungen gewünschte Effekt – weniger hohe Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen – für den einzelnen Versicherten nur in Kombination mit einem höheren Risiko für plötzlich auftretende Zahlungsverpflichtungen «erhältlich». Oder umgekehrt: Wer sich gegen das Risiko plötzlicher Zahlungsverpflichtungen absichern will, kauft sich gleichzeitig auch noch einen erleichterten Zugang zum «All inclusive»-Bereich. Die Absicherung alleine ist hingegen nicht erhältlich. Dies ist ein Systemfehler.
Eine Lösung dafür wäre, Absicherung gegen plötzliche Kosten und Zugang zu beinahe kostenlosen Leistungen zu trennen. Zum Beispiel mit der Äufnung eines persönlichen Fonds als Absicherung gegen plötzlich auftretende Kosten. Dieser könnte praktisch so ausgestaltet werden: Im Alter der Volljährigkeit zahlt jede Schweizerin und jeder Schweizer einmalig während eines Jahr ein monatliches Supplement von 150 Franken an seinen Krankenversicherer, so dass am Jahresende ein Fonds von 1800 Franken geäufnet ist. Hat die Person in diesem Jahr keine Gesundheitsausgaben verursacht (oder diese aus der eigenen Tasche bezahlt), so ist die Prämie im Folgejahr um 150 Franken tiefer und entspricht der normalen Prämie ohne Supplement bzw. Malus.
«Malus» für Kranke
Umgekehrt könnte man auch von einem Bonus sprechen: Wer ein Jahr lang keine Leistungen bezieht, zahlt im Folgejahr 150 Franken pro Monat weniger Prämien.
Dieser persönliche Fonds bleibt bestehen, bis die Person Gesundheitskosten verursacht, z.B. 1200 Franken in einem Jahr. Da der Fonds – in diesem Beispiel – am Jahresende auf 600 Franken abgesunken ist, muss er im Folgejahr wieder bis zum Betrag von 1800 Franken geäufnet werden, der Versicherte muss also entweder während neun Monaten je ein Malus von 150 Franken zusätzlich zu seiner üblichen Krankenversicherungsprämie bezahlen oder während 12 Monaten je 100 Franken (die genaue Ausgestaltung bleibt vorbehalten).
De facto entspricht dieses System einer höheren Franchise für alle. Chronisch Kranke bezahlen dabei jedes Jahr einen Malus, sie sind aber gegenüber heute nicht schlechter gestellt, da sie schon jetzt mehr Prämien bezahlen als Gesunde, welche eine höhere Franchise wählen können. Statt von einem «Malus» für Kranke könnte man ebenfalls von einem «Bonus» für Gesunde sprechen. Dies mag ungerecht erscheinen, aber es ist auch im bisherigen System so, dass Kranke mehr bezahlen als Gesunde.
Bei Gesunden wiederum ist der mit einer höheren Franchise einhergehende gewünschte Anreiz zum Sparen durch dieses System gewährleistet, ohne dass diese aber wie im jetzigen System mit hohen Franchisen das Risiko eingehen, im Krankheitsfall auf einen Schlag hohe Kosten stemmen zu müssen.
Das Bonus-Malus-System ist dabei im Versicherungswesen keine revolutionäre Neuerung. In der Autoversicherung ist es ganz im Gegenteil gang und gäbe: Wer unfallfrei fährt, erhält einen Bonus, wer einen Unfall baut, zahlt für eine bestimmte Zeit einen Malus.
Warum soll sich nicht auch auf körperliche Schäden anwenden lassen, was bei Blechschäden bestens funktioniert?
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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