Während sich das «St.Galler Tagblatt» der Empörungsbewirtschaftung in der Causa der Bischöfe hingibt, bewegt sich das einst rebellische «Saiten» entlang von FCSG und Stadtrat. Zuletzt schlägt unser Kolumnist noch den Bogen zum Babyschlaf.
Gross ist die Empörung über die Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kirche, welche die von den Bischöfen in Auftrag gegebene Studie enthüllt. Doch es sind nicht nur fromme Kirchenmitglieder an der Basis, die traurig und wütend sind. Fast noch mehr – und oft sogar lauter – sorgen sich kirchenferne Kreise um die Zukunft der Kirche. Obwohl sie damit sonst herzlich wenig am Hut haben.
So fordert die SP «Massnahmen» (wie immer und überall), Querulanten und geschasste Bistumsmitarbeiter finden endlich ein offenes Mikrofon und offene Leserbriefspalten. So auch im «St.Galler Tagblatt», wo der Chefredaktor seine Stunde gekommen sieht, sich mit einem kernigen Positionsbezug wieder einmal über die regionalen Niederungen zu erheben.
Druck, den man selber aufbaut
Der unseres Wissens reformiert getaufte und aus der Kirche ausgetretene Chefredaktor, auch sonst nicht gerade als intimer Kenner der katholischen Kirche bekannt, fordert Bischof Markus Büchel in einem Leitartikel zum Rücktritt auf: «Der Rücktritt ist jetzt angebracht.» Und siehe da: Zwei Tage später vermeldet das «Tagblatt» auf der Frontseite mit grossen Buchstaben: «Der öffentliche Druck auf Bischof Markus Büchel nimmt zu.» Aha.
Ausser einigen frustrierten Stimmen von Katholiken hatte die Zeitung dann aber wenig Neues zu vermelden. Ausser natürlich den Druck, den man selber aufzubauen versuchte. Man hätte auch titeln können: «Wir fordern Bischof Büchel immer noch zum Rücktritt auf.»
Eine altbekannte Praxis
Doch das wäre weniger sexy – und allzu durchsichtig gewesen. Auch so dürfte vielen Tagblatt-Leserinnen und -lesern der Zusammenhang klargeworden sein. Man schreit «Skandal», setzt Druck auf – und meldet dann: «Der Druck steigt».
Es ist eine altbekannte, von Boulevardmedienkampagnen her bekannte Praxis der Empörungsbewirtschaftung. Scheitert sie, ist es auch nicht so schlimm. Auf dem Boulevard galt schon immer die Regel: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.
Wird «Saiten» bald zum Regierungsorgan?
Das St.Galler Kulturmagazin «Saiten» macht ja selten in der grossen Öffentlichkeit von sich reden. Lange war es das zuverlässig informierende Blatt der alternativen und linken Kulturszene.
Wurde von den etablierten Medien selten kritisiert, nicht zuletzt wohl, weil die personellen Verflechtungen ziemlich eng sind. Und Medien wie das «Tagblatt» dem alternativen Blatt Arbeits- und Produktivkraft seiner eigenen Mitarbeitenden zur Verfügung stellt, die da fleissig kolumnieren und kommentieren.
Nun aber, da auch in St.Gallen der Wind politisch auf links-grün gedreht hat, beginnen sich die lokalpolitischen Positionen des einstigen Oppositionsblatts jenen der lokalen Parlaments- und Stadtratsmehrheit anzugleichen. So etwa beim Autobahnanschluss Güterbahnhof, wo einhellig gegen das geplante Bauwerk angerannt wird.
Das Auto ist der Feind
Oder bei der generell autofeindlichen Haltung. Für das einstige ausserparlamentarische Oppositionsblatt besteht die reale Chance – und Gefahr – dass es immer mehr rot-grüne Positionen der offiziellen städtischen Politik zu vertreten beginnt. Und sich damit kaum mehr, wie einst, von dieser unterscheidet.
Da wird sich «Saiten» bald einmal fragen müssen, worin denn nun sein Lebenszweck bestehe. Die penetrante Fussballberichterstattung im «Kulturmagazin», eine wahre Liebedienerei beim FCSG-Publikum, die manchem gestandenen Linken nicht gefällt, dürfte da als Raison d’Être kaum ausreichen.
«Als Erstes nicht schaden»
Was für Ärzte als erste Regel gilt, gilt noch lange nicht für alle ihre Hilfskräfte. Zum Beispiel die Medizinjournalisten. Seit dem Altertum folgen Mediziner der über 2000 Jahre alten Regel «Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare». Zu Deutsch: «Erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen.»
Was heute in den Medien an medizinischen Weisheiten verbreitet wird, kümmert sich nicht um solche Nebensächlichkeiten – und damit auch nicht um das Wohl der Menschen. Es sind fast immer Alarmmeldungen aus irgendeinem menschlichen Organ, nach deren Lektüre man sich mieser vorkommt als vorher.
Auch die Wissenschaftsjournalisten der NZZ beteiligen sich nicht selten an solcher Miesmacherei. Eins der noch harmloseren Beispiele: Am 18.9. lasen wir auf der NZZ-Wissenschaftsseite einen langen Artikel «Forschung und Erfahrung zeigen: Eltern schlafen ab der Geburt ihres Kindes jahrelang schlecht».
Dass Kinder, vor allem im Babyalter, selten ganze Nächte durchschlafen, zu dieser Erkenntnis braucht es eigentlich keine wissenschaftlichen Studien. Wäre es denn vielleicht besser, deshalb keine Kinder mehr auf die Welt zu stellen? Damit läge man in einem europäischen Megatrend. Den man wohl kaum als heilsam bezeichnen kann. Sondern eher als demographisch ziemlich destruktiv.
Idealvorstellung und Realität
Aber wie kommt man eigentlich dazu, nächtliches Aufstehen für ein Familienmitglied – es könnte ja auch mal jemand Älteres krank sein – so negativ zu sehen? Hat man vorher problemlos acht Stunden geschlafen?
Oder geht man einfach von einer Idealvorstellung aus, die in der Realität kaum je anzutreffen ist? Oder sollen wir glauben, dass Menschen früher besser geschlafen haben? Obwohl für die ganze Familie, oft auch für die Gäste und Haustiere, nur gerade ein einziges Bett zur Verfügung stand?
Mehr noch: Sollen wir glauben, dass unsere Vorfahren vor Jahrtausenden sieben bis acht Stunden am Stück geschlafen haben? Am Feuer, umgeben von Haus- und Raubtieren, menschlichen Feinden, unruhigen Grossfamilienmitgliedern?
Nein, der Schlafrhythmus zu jener Zeit dürfte viel eher dem gleichen, der üblicherweise entsteht, wenn man alle zwei bis drei Stunden nach dem Nachwuchs zu schauen hat. Was – wie die eigene Erfahrung mit drei Kindern zeigt – keineswegs so schlimm ist, wie es uns die Wissenschaftsjournalistin vorjammert.
(Symbolbild: Depositphotos)
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.