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Strafprozess gegen Ex-Raiffeisen-Chef

Fall Pierin Vincenz: «Das ist ein wegweisender Entscheid»

Ein St.Galler Strafrechtsanwalt und eine HSG-Professorin erklären, warum die Anklageschrift gegen den Ex-Raiffeisen-Chef viel zu lang ist, ob die Verjährung der Delikte droht, und wie es nun für alle weitergeht.

Odilia Hiller am 23. Februar 2024
  • Die wichtigsten Fragen, die sich jetzt stellen. Und Missverständnisse, die nicht entstehen sollten

  • Andreas Dudli ist Fachanwalt für Strafrecht und arbeitet als selbständiger Rechtsanwalt im Advokaturbureau Brunner & Dudli in St.Gallen. Als wir ihn telefonisch erreichen, kennt er das in dieser Woche bekanntgegebene Urteil des Zürcher Obergerichts im Fall Pierin Vincenz und Geschäftspartner bereits bestens - und äussert sich pointiert

  • Monika Simmler, Professorin für Strafrecht an der Universität St.Gallen, hat soeben drei Tage im St.Galler Kantonsrat bei der Ausübung ihres politischen Amtes verbracht. Die Wendung im Fall Vincenz hat sie dennoch mitbekommen

Das ist passiert:

Am vergangenen Dienstag hat das Obergericht des Kantons Zürich mitgeteilt, dass es das Urteil des Bezirksgerichts Zürich im Verfahren gegen Pierin Vincenz und zahlreiche weitere Beschuldigte wegen schwerer Verfahrensfehler aufhebt und an die Zürcher Staatsanwaltschaft zurückweist. Nach Auffassung des Obergerichts wurden die «in einem Strafverfahren zentralen Ansprüche auf rechtliches Gehör und auf eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Anklageschrift verletzt».

Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat sogleich angekündigt, gegen diesen Entscheid vor Bundesgericht zu rekurrieren. Als nächstes wird demzufolge das Bundesgericht zu entscheiden haben, ob der Zürcher Staatsanwalt eine neue Anklageschrift verfassen muss.

Ist Pierin Vincenz jetzt unschuldig beziehungsweise aus dem Schneider, wenn das Bundesgericht dem Obergericht zustimmt?

Nicht im Geringsten. Zwar gilt weiterhin die Unschuldsvermutung, solange gegen die Beschuldigten kein rechtskräftiges Urteil ergeht. Das gilt auch für Pierin Vincenz, dem Delikte im Zusammenhang mit unrechtmässigen privaten Auslagen und Unternehmenstransaktionen vorgeworfen werden. Das Zürcher Obergericht hat sich jedoch in keiner Art und Weise zu Schuld oder Unschuld der Beschuldigten geäussert. Es hat einzig «schwerwiegende Verfahrensfehler» festgestellt, das Urteil der Vorinstanz aufgehoben und die Anklageschrift an die Zürcher Staatsanwaltschaft zur Überarbeitung zurückgewiesen.

Was hat der Zürcher Staatsanwalt gemäss Obergericht falsch gemacht?

Das Zürcher Obergericht findet unter anderem, der federführende Ankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel habe seine Anklageschrift zu weitschweifig formuliert. Mit 357 Seiten werde das Anklageprinzip verletzt. Dieses besagt, dass die Anklageschrift das Verhalten, welches einer beschuldigten Person vorgeworfen wird, «möglichst kurz, aber genau» zu umschreiben hat.

«357 Seiten sind zu lang», stellt Andreas Dudli dazu trocken fest. Natürlich müsse eine Klageschrift den ganzen Sachverhalt darlegen, jedoch in möglichst konzentrierter Form. Zudem darf das Gericht nicht mit Nebensächlichkeiten beeinflusst oder gelangweilt werden.

Der Strafrechtsexperte ist sich aber sicher, dass der Staatsanwalt nicht absichtlich «länglich» geworden sei. «Er wollte es einfach sehr, sehr gut machen.» Monika Simmler teilt diese Einschätzung: «Dieser Staatsanwalt gehört zu den kompetentesten, die wir in diesem Land haben.»

Hätte der Zürcher Staatsanwalt seine Schrift nun einfach von der Künstlichen Intelligenz (KI) ein wenig kürzen lassen können, anstatt das Bundesgericht anzurufen?

In der Theorie ja, in der Praxis wohl eher nicht, sagt Dudli. Bei einer allfälligen Kürzung, sollte es dazu kommen, wäre darauf zu achten, dass sämtliche Straftatbestände ausreichend beschrieben wären, ohne jedoch abzuschweifen. Dazu sei KI wohl (noch) nicht in der Lage.

Ist das Verfahren nun zurück auf Feld eins, wie vielfach behauptet wird?

Nein, findet Andreas Dudli. Von Feld eins könne keine Rede sein, weil die Ermittlungen bereits geführt seien. «Sollte das Bundesgericht den Entscheid des Zürcher Obergerichts stützen, wäre das Geschäft lediglich zurück im Vorverfahren. Das heisst, es wäre kein Gericht mehr dafür zuständig, bis der Staatsanwalt seine Anklageschrift überarbeitet hätte.» Neu ermitteln müsse dieser hingegen nicht – nur eindampfen.

Welche Bedeutung hat dieses Urteil?

Sowohl Andreas Dudli als auch Monika Simmler schätzen die Bedeutung des Urteils als hoch ein, sollte es vom Bundesgericht bestätigt werden. «Das ist ein wegweisender Entscheid», sagt Dudli. Es wäre wichtig, dass wieder einmal zum Ausdruck gebracht würde, dass weitschweifige Anklageschriften vom Gesetz zum Schutz der Beschuldigten im Grundsatz untersagt werden. Weitschweifigkeit sei ein verbreitetes Problem unter Staatsanwältinnen und Staatsanwälten. «Das könnte weitreichende Folgen haben für viele Strafprozesse in diesem Land – ich wäre froh um dieses Urteil.»

Stimmt es, dass die Verjährung ausgesetzt ist, wie das Obergericht behauptet?

Das sei nicht so klar, wie das Gericht behaupte, sagen Dudli und Simmler übereinstimmend. In der Literatur sei diese Frage umstritten, weshalb man sich gut vorstellen könne, dass die Verteidigung auf dieses Thema noch einmal zu sprechen komme. Die Delikte wie Betrug, Veruntreuung und ungetreue Geschäftsbesorgung, welche den Beschuldigten zur Last gelegt werden, wären grösstenteils zwischen 2009 und 2015 verübt worden. Womit seit den früheren mutmasslichen Taten in diesem Jahr 15 Jahre vergangen wären – was der Verjährungsfrist entspricht.

Was muss Pierin Vincenz jetzt tun?

Warten. Und nicht nur er. Alle müssen jetzt erstmal abwarten, was das Bundesgericht zum Entscheid des Zürcher Obergerichts sagt. Anschliessend würde im Fall eines stützenden Entscheids des Bundesgerichts abgewartet werden müssen, bis der Staatsanwalt seine Hausaufgaben gemacht hätte und neue Anklage erhebt.

Wie steht es mutmasslich um die Finanzen von Pierin Vincenz?

Alle Vermögenswerte bleiben blockiert. Pierin Vincenz lebt vermutlich weiterhin am Existenzminimum und hat keinen Zugriff auf sein Vermögen, ausser es wird ihm von der zuständigen Instanz gestattet. Im Prozess sagte der heute 67-jährige Ex-Raiffeisen-Chef aus, er lebe von 2200 Franken AHV pro Monat. An welchem Aufenthaltsort er dies tut, ist nicht bekannt.

Stimmt es, dass mit diesem Urteil «wieder einmal ein Reicher, der sich teure Anwälte leisten kann, einem Urteil entgeht»?

Das ist Blödsinn. Für die Verteidigung handelt es sich allenfalls um einen kleinen Zwischensieg, sollte das Bundesgericht zum gleichen Schluss kommen wie das Zürcher Obergericht.

Wie lange dauert dieses Verfahren noch?

Schwer zu sagen. Manche Experten sprechen von acht bis zehn Jahren. «Dass es so lange dauern wird, glaube ich nicht», sagt Dudli. Monika Simmler weist darauf hin, dass im Fall einer Rückweisung des Urteils durch das Bundesgericht das Verfahren zurück ans Obergericht ginge. Dieses hätte anschliessend eine inhaltliche Beurteilung des Ersturteils des Bezirksgerichts Zürich vorzunehmen. So oder so gehe es noch sehr lange, bis ein rechtskräftiges Urteil gegen die Beschuldigten zu erwarten sei.

Wie wird es am Ende herauskommen?

Das weiss man nie, doch Strafrechtsanwalt Dudli geht davon aus, dass es am Ende auf einen Schuldspruch für Pierin Vincenz hinausläuft. Jedoch fiele ein solcher je tiefer aus, je länger das Verfahren dauert. Monika Simmler möchte sich zu dieser Frage nicht äussern.

(Bilder: Keystone, PD; Bildcollage: Die Ostschweiz)

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Autor/in
Odilia Hiller

Odilia Hiller aus St.Gallen war von August 2023 bis Juli 2024 Co-Chefredaktorin von «Die Ostschweiz». Frühere berufliche Stationen: St.Galler Tagblatt, NZZ, Universität St.Gallen.

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