Dass die Gesundheitsbranche unter Druck steht, ist nicht neu. Dabei gehen jedoch Tierärzte und Tierärztinnen vergessen. Auch hier macht sich die steigende Arbeitsbelastung bemerkbar – und wird künftig wohl noch verschlimmert.
Zu wenig Personal, zu geringer Lohn, zu viele Patienten, Stress, Burnout: Die Gesundheitsbranche ist gefordert, sich fit für die Zukunft zu machen. Von müden und gehetzten Pflegefachpersonen ist in den Medien zu lesen, von Entlassenen, die den Spardruck der Branche am eigenen Leib erfahren müssen, von Politikern, die klagen, aber nur (zu) wenig vom Versprochenen umsetzen.
Wird über die Gesundheitsbranche diskutiert, werden sie eigentlich immer vergessen: die Tierärztinnen, Tierärzte und tiermedizinische Praxisassistentinnen und -assistenten. Dabei sind die Probleme eigentlich dieselben. «Auch wir spüren den Fachkräftemangel und die steigende Arbeitsbelastung täglich», sagt Elisabeth Goldinger im Gespräch. Selber bezeichnet sie sich als «alten Hasen» in der Welt der Tierärztinnen und Tierärzte. Viele Jahre führte sie eine Praxis. Zudem ist sie Präsidentin der Gesellschaft der Thurgauer Tierärztinnen und Tierärzte.
Sofortige Hilfe
Vor einem Jahr wurde durch eben diese Gesellschaft ein Notfalltelefon für Tierärztinnen und Tierärzte in schwierigen Lebenssituationen initiiert. Berufsleute erhalten dort sofortige Hilfe in akuten Krisensituationen. Wie gross ist die tägliche Belastung also, die Elisabeth Goldinger und ihre Kollegen tagtäglich stemmen müssen? «Bisher hatte ich noch keinen Bedarf, mich beim Notfalltelefon zu melden. Alleine jedoch die Tatsache, dass es das Angebot gibt, ist wertvoll – und zeigt auf, dass die Hilfe benötigt wird.»
Denn eines liegt auf der Hand: Das Berufsbild hat sich in den vergangenen Jahren enorm entwickelt. Die tägliche Arbeitsbelastung fordere höchste Konzentration, und die Emotionen kommen dabei nicht zu kurz. «Wir behandeln in unserer Praxis nicht nur das Tier, sondern müssen gleichzeitig auch immer den Besitzer betreuen. Das braucht viel Energie und Zeit – die wir nicht immer haben», fasst es Goldinger zusammen.
Frühe Spezialisierung
Der Beruf sei professioneller geworden. Angehende Tierärztinnen und Tierärzte müssen sich bereits früh in der Ausbildung auf einen Bereich spezialisieren – das bringe wiederum Vor- und Nachteile mit sich. Konnte man früher noch fast alle Tierarten mit einem ähnlichen Grundschema behandeln, könne das enorme Fachwissen heute in manchen Fällen blockieren. «Die jungen Berufsleute sind unglaublich gut, sie haben ein enormes Wissen», sagt Goldinger. «Manchmal ist es aber so, dass man sich im Wald der Diagnostik verliert.»
Während ein Tierarzt oder eine Tierärztin früher auch einmal auf ihr Bauchgefühl und die Erfahrung zurückgreifen konnte, wird heute grundlegender gehandelt: Blut abgenommen, ein CT veranlasst. Dabei kommen immer mehr Diagnosen heraus, ganz im Sinne von: Wer sucht, der findet (mehr).
Natürlich kann dadurch ein Tier anders behandelt werden als in der Vergangenheit. Ein Beinbruch einer Katze ist heutzutage kein Todesurteil mehr. Ein künstliches Hüftgelenk kann dem Hund noch viele schöne Jahre schenken – wenn man als Besitzer die Kosten nicht scheut. Und: «Man läuft Gefahr, das Tier aus den Augen zu verlieren, weil man mit so vielen Diagnosen konfrontiert ist und vielleicht weitere Abklärungen einleiten muss», so Goldinger.
Der Hund, dein Freund
Zudem kommen immer mehr Vorschriften dazu, die den Berufsalltag verkomplizieren. Müsse beispielsweise ein Antibiotikum verabreicht werden, müsse man sich gegenüber den Behörden fast rechtfertigen, weshalb das Mittel benötigt wird. Gerade jüngere Berufsleute könne das hemmen.
Ausserdem nimmt heute ein Tier einen ganz anderen Stellenwert ein. Des Menschen bester Freund, besagt nicht umsonst ein gängiges Sprichwort. «Die Besitzer wollen mehr abgeklärt haben, ihren Tieren stehen viele Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Es gibt mehr Spezialisten für Teilgebiete, die wiederum höhere Anforderungen mit sich bringen», sagt Goldinger.
Viele Tiere sind inzwischen versichert. Deshalb veranlassen die Besitzer in einigen Fällen kostenintensive Behandlungen. Doch nicht immer werden diese von den Versicherungen übernommen. Bei den Streitfällen fallen die Tierärzte und Tierärztinnen zwischen «Stühle und Bänke».
Viele Emotionen
Die Branche muss sich zwangsläufig mit ethischen Fragen auseinandersetzen: Wann ist eine Behandlung sinnvoll? Wann hingegen der Leidensdruck für ein Tier zu gross? Nicht wenige Male ist die Gratwanderung zwischen einer Vermenschlichung und Tierleid eine ganz schmale. «Gerade junge Berufsleute sind sich diese Emotionen nicht gewohnt, müssen gleichzeitig aber Ratschläge an den Besitzer geben und dabei professionell bleiben», so Goldinger weiter.
Ihr helfe ihre jahrelange Berufserfahrung dabei. Aber auch sie ist gefordert, wenn sie sich viel Zeit für die Besitzer nehmen muss, um Fragen zu beantworten, sich vielleicht auch rechtfertigen zu müssen. «Die Arbeit am Tier selber ist wohl die am wenigsten belastendste», fasst sie es zusammen.
Als Beispiel nennt sie die vielen «Notfälle», die in Wirklichkeit gar keine sind, welche am Wochenende oder in der Nacht eintreffen würden. «Der Besitzer hat am Sonntag Zeit, weil er am anderen Tag wieder arbeiten muss. Also möchte er sein Tier in diesem Moment zeigen. Gleichzeitig sagt er oder sie zu mir, ich solle auf mich achtgeben, und nicht ständig zu viel arbeiten. Dass gerade er oder sie ein wesentlicher Teil dazu beiträgt, indem er am Sonntag eine Bagatelle zeigen will, stösst auf Unverständnis.»
Geerdet durch Freizeit
Dennoch könnte sich Goldinger keinen schöneren Beruf als derjenige der Tierärztin vorstellen. Für sie brauche es deshalb auch keinen Ausgleich in der Freizeit. Die verbringt sie nämlich ebenso gerne mit ihren eigenen Tieren, draussen im Garten und der Natur. Das erdet sie sprichwörtlich, um für die Arbeit gerüstet zu sein.
Denn die wird auch künftig keine einfache sein. Die Branche müsse sich vielen Herausforderungen stellen. An sich sei der Beruf attraktiv genug, um künftige Berufsleute anzusprechen. «Die Arbeitgeber müssen jedoch darauf achten, dass die Arbeitszeiten eingehalten werden, dass es die Möglichkeit für Teilzeitmodelle gibt und – ganz wichtig – mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden.»
Jährlich gehen etwa 90 Tierärzte in Pension oder beenden aus anderen Gründen ihre Tätigkeit. Für eine 100-Prozent-Stelle wird laut Goldinger heutzutage mit 1.7 Personen gerechnet, welche die Lücke schliessen müssen. 150 Studentinnen und Studenten kommen jährlich in der Schweiz neu dazu, zwischen 20 bis 30 Prozent brechen ihr Studium jedoch vorzeitig ab. Die Folge: Der Fachkräftemangel wird sich weiter verschärfen.
Die Anforderungen an die Berufsleute wachsen. Im Gegenteil zur Bereitschaft, rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen, wie es viele ältere Berufsleute getan haben. Auch Goldinger hat ihre Tätigkeit als Tierärztin an den Nagel gehängt. Nicht wegen der steigenden Arbeitsbelastung. Oder weil ihr der Job nicht mehr gefällt. Ganz im Gegenteil. Sie wird sich künftig vermehrt dem Tierschutz widmen. Weil auch da das Leid gross ist.
(Bild: PD)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.