Psychische Probleme werden gern totgeschwiegen. Macht jemand sein Leiden öffentlich, folgt gern auch Kritik – wie beim abtretenden Wittenbacher Gemeindepräsidenten. Wie damit umgehen? Antworten von Doris Straus, Direktorin der Privatklinik Oberwaid St.Gallen.
Doris Straus, in der Vergangenheit gab es gleich mehrere Politikerinnen und Politiker, die ihr Burnout öffentlich gemacht haben. Sind inzwischen mehr Menschen davon betroffen – oder gehen wir mittlerweile anders damit um?
Doris Straus: Burnout ist in den letzten zehn Jahren ein anhaltend relevantes Thema. Über alle Branchen hinweg geben knapp 30 Prozent der Erwerbstätigen sowohl eine berufliche Stressbelastung als auch Anzeichen von Burnout an. Die Stressbelastung steigt stetig, die Zahl der Burnout-Betroffenen bleibt auf hohem Niveau relativ stabil. Verbessert haben sich die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten in der Medizin. Das heisst, Burnout kann früher und professioneller erkannt und behandelt werden. Eine starke Zunahme zeigt sich allerdings bei den Arbeitsunfähigkeitstagen infolge von Stressfolgeerkrankungen. Der Umgang mit psychischer Belastung hat sich gesellschaftlich und in Bezug auf die Anforderungen der neuen Arbeitswelt verändert.
Nach wie vor gibt es aber viele, die über die psychische Gesundheit nicht gerne reden. Weshalb ist das so?
Auch wenn eine gewisse Enttabuisierung von Burnout erfolgt ist, ist die Stigmatisierung psychischer und psychosomatischer Störungen nach wie vor ein gesellschaftlich bedeutsames Problem. Der öffentliche Diskurs über Burnout ist differenzierter und offener geworden. Wer an einem Burnout leidet oder gefährdet ist, fürchtet jedoch noch immer eine Stigmatisierung oder negative Folgen, ob am Arbeitsplatz oder im persönlichen Umfeld.
Was müsste passieren, damit ein Umdenken stattfindet?
Es müsste eine Entstigmatisierung psychosomatischer Erkrankungen erfolgen. Es dürfte keine Unterschiede in der Bewertung von körperlichen oder psychischen Beschwerden und Erkrankungen geben. Im Hinblick auf die steigende psychische Belastung, in der Schweiz wie weltweit, müsste psychosomatischen Zusammenhängen in Bezug auf unsere Gesundheit deutlich mehr Beachtung geschenkt werden.
Was stellen Sie fest – wie lange dauert es, bis die Betroffenen den Mut finden, sich bei Ihnen zu melden?
Leider nach wie vor viel zu lange, in der Regel dann, wenn nichts mehr geht, das heisst, nach einem psycho-physischen Zusammenbruch. Dem geht häufig ein jahrelanger schleichender Prozess mit zunehmender Symptombelastung und Rückzug der Betroffenen voraus.
Gerade Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten sind gefordert, sie haben keinen «9 to 5»-Job. Wie belastend kann das sein?
Wirklich beantworten können Ihnen diese Frage am besten diese Personen selbst – denn wie wir Stress erleben, ist stark von unserer subjektiven Bewertung von uns selbst und der Situation beeinflusst sowie den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Dennoch gibt es wiederkehrende Themen, die unabhängig von der Tätigkeit eine Belastung darstellen: Die Anforderungen der modernen Arbeitswelt verändern sich grundsätzlich.
Das heisst?
Beschleunigung, Druck und Anforderungen nehmen stetig zu, dazu leben wir in zunehmend unsicheren Kontexten, sprich, wir sind in unserer Anpassungsleistung und unserem Selbstmanagement stark gefordert. Die Risiken für Burnout sind wissenschaftlich sehr gut untersucht, wie ein Ungleichgewicht zwischen unserem persönlichen Einsatz und der erlebten Wertschätzung, zwischen den Anforderungen und der Möglichkeit zur Einflussnahme, aber auch Arbeitsplatz- und Rollenkonflikte sowie eine hohe quantitative, aber vielmehr auch qualitative Arbeitsbelastung, wenn wir beispielsweise häufig negativen Emotionen bei der Arbeit ausgesetzt sind.
Wie sieht es im Hinblick auf die Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten aus?
Grosse Herausforderungen als Gemeindepräsident dürften sicher die in der Rollenerwartung wie festgeschriebene Entgrenzung von Beruflichem und Privatem, die ständige Erreichbarkeit, die zunehmende Komplexität von Geschäften, die interaktionellen Belastungen im öffentlichen Diskurs, der zunehmend aggressiv und polarisierend geführt wird und der Umgang mit unterschiedlichsten, nicht zu vereinbarenden Erwartungen sein.
Welche Warnsignale sollte man unbedingt ernst nehmen?
Beginn eines Burnout-Prozesses ist meist der unter andauernder Belastung am Arbeitsplatz steigende persönliche Einsatz auf Kosten von Erholungsphasen und eigenen Bedürfnissen. Es kommt zum Auftreten körperlicher Beschwerden wie Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden oder Schmerzsymptomen. Konzentrations- und Gedächtnisstörungen stellen sich ein. Die Folge sind oft Selbstzweifel und Ängste, die erwartete Leistung nicht mehr zu erbringen. Was zuvor interessant und eine positive Herausforderung war, löst Widerwillen und Gereiztheit aus. Motivation und Kreativität sinken. Damit beginnt ein schädigender Kreislauf von sinkender persönlicher Leistungsfähigkeit bei gleichzeitig steigendem Einsatz und zunehmender Erschöpfung. Das Durchhalten unter chronischer Stressbelastung kann schliesslich in einen Zustand depressiver Verzweiflung und Aussichtslosigkeit münden.
Wie kann man Gegensteuer bieten?
Möglichst frühzeitig therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist wichtig, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen und das Risiko von psychischen und körperlichen Folgen von chronischem Stress zu senken.
Wie schafft man es, einen Ausgleich zu finden?
Die meisten wissen heute, dass eine «gesunde Lebensführung» mit Entspannung, Bewegung, gesunder Ernährung, Pflege von persönlichen Interessen und sozialen Beziehungen unsere Stressbewältigung unterstützt. Und gleichzeitig kommt es unter anhaltender Stressbelastung häufig zu dysfunktionalen Kompensationen. Diesen Risiken entgegenwirken und eine gesunde Selbstsorge aufrechterhalten zu können, hängt davon ab, wie wir bestimmte Persönlichkeitskompetenzen entwickelt haben – eine gute Selbstwahrnehmung sowie gesunde Selbstwertregulation sind wichtige Kernkompetenzen gesunden Stressmanagements.
Gerade in den Sozialen Medien ist der Druck hoch. Macht eine öffentliche Person ihr Leiden öffentlich, müssen sie sich auch Kritik gefallen lassen. Was kann das auslösen? Und wie geht man damit um?
Wichtig ist, klare Grenzen zu setzen. Kritik kann Kränkungen auslösen. Erfolgt diese öffentlich, ist sie meist auch mit starken Schamgefühlen verbunden. In einer psychischen Krise eine gesunde Distanzierung aufrecht zu erhalten und sich wieder auf die eigene Bewertung, die eigenen Prioritäten und Werte beziehen zu können, ist sicher eine grosse Herausforderung. Umso wichtiger ist ein unterstützendes persönliches Umfeld, das einem Rückhalt gibt. Auch professionelle Gespräche wie Coaching oder Psychotherapie sind eine wichtige Unterstützung. Sie bieten einen geschützten, neutralen Rahmen, in dem Bewältigungsstrategien erarbeitet werden und Perspektivenwechsel möglich ist. Professionelle Gespräche wie Coaching oder Psychotherapie bieten sowohl die Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen mitteilen zu können, als auch können sie wichtige Unterstützung geben.
Wie sieht die Langzeitprognose nach einem Burnout aus? Kann man je wieder «unbelastet» an einen Job herangehen – oder ist die Gefahr grösser, wieder daran zu erkranken?
An sich sehr gut. Untersuchungen haben sehr klar gezeigt, dass die Aussage «einmal Burnout – immer Burnout» nicht zutrifft. Nach erfolgreicher Therapie haben die Betroffenen andere Strategien im Umgang mit Stress zur Verfügung und wissen, diese für sich zu nutzen. Sie haben wichtige Persönlichkeitskompetenzen weiterentwickelt, die nicht nur ihre Resilienz stärken, sondern auch neue Denk- und Verhaltensfreiräume ermöglichen – in allen Lebensbereichen, nicht nur dem Arbeitskontext.
Weitere Informationen: www.oberwaid.ch
(Bild: PD)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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