logo

Interview

Klinikdirektorin Doris Straus über Burnouts in öffentlichen Ämtern: «Was zuvor interessant war, löst Widerwillen und Gereiztheit aus»

Psychische Probleme werden gern totgeschwiegen. Macht jemand sein Leiden öffentlich, folgt gern auch Kritik – wie beim abtretenden Wittenbacher Gemeindepräsidenten. Wie damit umgehen? Antworten von Doris Straus, Direktorin der Privatklinik Oberwaid St.Gallen.

Manuela Bruhin am 13. September 2023

Doris Straus, in der Vergangenheit gab es gleich mehrere Politikerinnen und Politiker, die ihr Burnout öffentlich gemacht haben. Sind inzwischen mehr Menschen davon betroffen – oder gehen wir mittlerweile anders damit um?

Doris Straus: Burnout ist in den letzten zehn Jahren ein anhaltend relevantes Thema. Über alle Branchen hinweg geben knapp 30 Prozent der Erwerbstätigen sowohl eine berufliche Stressbelastung als auch Anzeichen von Burnout an. Die Stressbelastung steigt stetig, die Zahl der Burnout-Betroffenen bleibt auf hohem Niveau relativ stabil. Verbessert haben sich die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten in der Medizin. Das heisst, Burnout kann früher und professioneller erkannt und behandelt werden. Eine starke Zunahme zeigt sich allerdings bei den Arbeitsunfähigkeitstagen infolge von Stressfolgeerkrankungen. Der Umgang mit psychischer Belastung hat sich gesellschaftlich und in Bezug auf die Anforderungen der neuen Arbeitswelt verändert.

Nach wie vor gibt es aber viele, die über die psychische Gesundheit nicht gerne reden. Weshalb ist das so?

Auch wenn eine gewisse Enttabuisierung von Burnout erfolgt ist, ist die Stigmatisierung psychischer und psychosomatischer Störungen nach wie vor ein gesellschaftlich bedeutsames Problem. Der öffentliche Diskurs über Burnout ist differenzierter und offener geworden. Wer an einem Burnout leidet oder gefährdet ist, fürchtet jedoch noch immer eine Stigmatisierung oder negative Folgen, ob am Arbeitsplatz oder im persönlichen Umfeld.

Was müsste passieren, damit ein Umdenken stattfindet?

Es müsste eine Entstigmatisierung psychosomatischer Erkrankungen erfolgen. Es dürfte keine Unterschiede in der Bewertung von körperlichen oder psychischen Beschwerden und Erkrankungen geben. Im Hinblick auf die steigende psychische Belastung, in der Schweiz wie weltweit, müsste psychosomatischen Zusammenhängen in Bezug auf unsere Gesundheit deutlich mehr Beachtung geschenkt werden.

Was stellen Sie fest – wie lange dauert es, bis die Betroffenen den Mut finden, sich bei Ihnen zu melden?

Leider nach wie vor viel zu lange, in der Regel dann, wenn nichts mehr geht, das heisst, nach einem psycho-physischen Zusammenbruch. Dem geht häufig ein jahrelanger schleichender Prozess mit zunehmender Symptombelastung und Rückzug der Betroffenen voraus.

Gerade Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten sind gefordert, sie haben keinen «9 to 5»-Job. Wie belastend kann das sein?

Wirklich beantworten können Ihnen diese Frage am besten diese Personen selbst – denn wie wir Stress erleben, ist stark von unserer subjektiven Bewertung von uns selbst und der Situation beeinflusst sowie den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Dennoch gibt es wiederkehrende Themen, die unabhängig von der Tätigkeit eine Belastung darstellen: Die Anforderungen der modernen Arbeitswelt verändern sich grundsätzlich.

Das heisst?

Beschleunigung, Druck und Anforderungen nehmen stetig zu, dazu leben wir in zunehmend unsicheren Kontexten, sprich, wir sind in unserer Anpassungsleistung und unserem Selbstmanagement stark gefordert. Die Risiken für Burnout sind wissenschaftlich sehr gut untersucht, wie ein Ungleichgewicht zwischen unserem persönlichen Einsatz und der erlebten Wertschätzung, zwischen den Anforderungen und der Möglichkeit zur Einflussnahme, aber auch Arbeitsplatz- und Rollenkonflikte sowie eine hohe quantitative, aber vielmehr auch qualitative Arbeitsbelastung, wenn wir beispielsweise häufig negativen Emotionen bei der Arbeit ausgesetzt sind.

Wie sieht es im Hinblick auf die Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten aus?

Grosse Herausforderungen als Gemeindepräsident dürften sicher die in der Rollenerwartung wie festgeschriebene Entgrenzung von Beruflichem und Privatem, die ständige Erreichbarkeit, die zunehmende Komplexität von Geschäften, die interaktionellen Belastungen im öffentlichen Diskurs, der zunehmend aggressiv und polarisierend geführt wird und der Umgang mit unterschiedlichsten, nicht zu vereinbarenden Erwartungen sein.

Welche Warnsignale sollte man unbedingt ernst nehmen?

Beginn eines Burnout-Prozesses ist meist der unter andauernder Belastung am Arbeitsplatz steigende persönliche Einsatz auf Kosten von Erholungsphasen und eigenen Bedürfnissen. Es kommt zum Auftreten körperlicher Beschwerden wie Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden oder Schmerzsymptomen. Konzentrations- und Gedächtnisstörungen stellen sich ein. Die Folge sind oft Selbstzweifel und Ängste, die erwartete Leistung nicht mehr zu erbringen. Was zuvor interessant und eine positive Herausforderung war, löst Widerwillen und Gereiztheit aus. Motivation und Kreativität sinken. Damit beginnt ein schädigender Kreislauf von sinkender persönlicher Leistungsfähigkeit bei gleichzeitig steigendem Einsatz und zunehmender Erschöpfung. Das Durchhalten unter chronischer Stressbelastung kann schliesslich in einen Zustand depressiver Verzweiflung und Aussichtslosigkeit münden.

Wie kann man Gegensteuer bieten?

Möglichst frühzeitig therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist wichtig, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen und das Risiko von psychischen und körperlichen Folgen von chronischem Stress zu senken.

Wie schafft man es, einen Ausgleich zu finden?

Die meisten wissen heute, dass eine «gesunde Lebensführung» mit Entspannung, Bewegung, gesunder Ernährung, Pflege von persönlichen Interessen und sozialen Beziehungen unsere Stressbewältigung unterstützt. Und gleichzeitig kommt es unter anhaltender Stressbelastung häufig zu dysfunktionalen Kompensationen. Diesen Risiken entgegenwirken und eine gesunde Selbstsorge aufrechterhalten zu können, hängt davon ab, wie wir bestimmte Persönlichkeitskompetenzen entwickelt haben – eine gute Selbstwahrnehmung sowie gesunde Selbstwertregulation sind wichtige Kernkompetenzen gesunden Stressmanagements.

Gerade in den Sozialen Medien ist der Druck hoch. Macht eine öffentliche Person ihr Leiden öffentlich, müssen sie sich auch Kritik gefallen lassen. Was kann das auslösen? Und wie geht man damit um?

Wichtig ist, klare Grenzen zu setzen. Kritik kann Kränkungen auslösen. Erfolgt diese öffentlich, ist sie meist auch mit starken Schamgefühlen verbunden. In einer psychischen Krise eine gesunde Distanzierung aufrecht zu erhalten und sich wieder auf die eigene Bewertung, die eigenen Prioritäten und Werte beziehen zu können, ist sicher eine grosse Herausforderung. Umso wichtiger ist ein unterstützendes persönliches Umfeld, das einem Rückhalt gibt. Auch professionelle Gespräche wie Coaching oder Psychotherapie sind eine wichtige Unterstützung. Sie bieten einen geschützten, neutralen Rahmen, in dem Bewältigungsstrategien erarbeitet werden und Perspektivenwechsel möglich ist. Professionelle Gespräche wie Coaching oder Psychotherapie bieten sowohl die Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen mitteilen zu können, als auch können sie wichtige Unterstützung geben.

Wie sieht die Langzeitprognose nach einem Burnout aus? Kann man je wieder «unbelastet» an einen Job herangehen – oder ist die Gefahr grösser, wieder daran zu erkranken?

An sich sehr gut. Untersuchungen haben sehr klar gezeigt, dass die Aussage «einmal Burnout – immer Burnout» nicht zutrifft. Nach erfolgreicher Therapie haben die Betroffenen andere Strategien im Umgang mit Stress zur Verfügung und wissen, diese für sich zu nutzen. Sie haben wichtige Persönlichkeitskompetenzen weiterentwickelt, die nicht nur ihre Resilienz stärken, sondern auch neue Denk- und Verhaltensfreiräume ermöglichen – in allen Lebensbereichen, nicht nur dem Arbeitskontext.

Weitere Informationen: www.oberwaid.ch

(Bild: PD)

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.