Die Bedingungen in den Schweizer Untersuchungsgefängnissen werden kritisiert. Der Kanton St.Gallen startete deshalb einen Modellversuch, um ein besonderes Augenmerk auf die Angehörigen und das persönliche Umfeld der Inhaftierten zu legen.
23 Tage am Tag in einer kleinen Zelle eingesperrt zu sein, dürfte für alle ein Albtraum sein. Und doch passiert genau das den eingewiesenen Personen, wenn sie in einem Untersuchungsgefängnis in der Schweiz untergebracht werden – zu einem Zeitpunkt, an welchem für sie nach wie vor der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt.
Doch damit nicht genug: Es fehlt der Kontakt zu anderen Menschen, die eingewiesenen Personen sind isoliert, es gibt keine Beschäftigung für sie, die ärztliche und psychiatrische Versorgung ist unzureichend. Die Verhältnisse spiegeln sich auch in den erhöhten Belastungen bei der psychischen Gesundheit und den Suizidzahlen wider.
Dass die strenge Schweizer Untersuchungshaft kritisiert wurde, ist nicht neu. Das habe teilweise mit der veralteten Infrastruktur zu tun, sagt Barbara Reifler, Amtsleiterin des Justizvollzugs des Kantons St.Gallen, im Gespräch. «Gerade die Stadtgefängnisse, welche der Kantonspolizei unterstellt sind, sind teils in historischen Gebäuden untergebracht. Die Platzverhältnisse und Möglichkeit zur Modernisierung sind dort sehr eingeschränkt. Viel trägt das engagierte Personal zwar dazu bei, einen solchen Aufenthalt so menschenwürdig wie möglich zu gestalten. Neubauprojekte brauchen jedoch ihre Zeit.»
Weniger Belastungen
Aufgrund dessen hat die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, kurz KKJPD, im vergangenen Jahr entsprechende Empfehlungen festgehalten, um die Bedingungen für die Inhaftierten zu verbessern. Wie dem Massnahmenkatalog zu entnehmen ist, soll beispielsweise die erste Phase, in der die Verhafteten 23 Stunden in einer Zelle untergebracht sind, möglichst kurz gehalten werden. Anschliessend sollen sie in den Gruppenvollzug überführt werden. Dies ist laut Reifler aber ein Veränderungsprozess, den auch die Staatsanwaltschaft und die Kantonspolizei mittragen müssen, damit es funktioniere.
Im Kanton St.Gallen könnte dies wie folgt aussehen: Die Phase eins wird weiterhin in einem Polizeigefängnis durchgeführt. Der Gruppenvollzug findet anschliessend im Regionalgefängnis Altstätten statt. Dort sind Infrastrukturen vorhanden – und werden mit dem Erweiterungsbau, der im Jahr 2027/28 eröffnet werden kann, noch einmal verbessert werden. «So sollen insbesondere die psychischen Belastungen sinken», so Reifler weiter.
Wichtige Kontakte
Der Kanton St.Gallen startete vor rund einem halben Jahr mit einem vom Bundesamt für Justiz unterstützten Modellversuch. In diesem sollen insbesondere das persönliche Umfeld und die direkten Angehörigen der Inhaftierten ein besonderes Augenmerk erhalten. Denn die Familie wird in diesen belastenden Zeiten, in welcher ein Mensch in U-Haft kommt, meist vergessen. «Häufig sind da Eltern, Kinder, Geschwister, die in der Situation genau so leiden, wie die Inhaftierten selber», so Reifler weiter.
Die Personalien der Angehörigen werden deshalb aufgenommen und, falls gewünscht, an die Familienberatungsstelle weitergeleitet. «Das Thema einer Verhaftung eines Familienmitglieds ist häufig stigmatisiert», weiss Reifler. Kinder erzählen dann beispielsweise in der Schule, dass der Vater im Urlaub sei – oder im Krankenhaus. Deshalb soll ein niederschwelliger Kontakt mit einer Beratungsstelle hergestellt werden, um die Angehörigen in diesen herausfordernden Zeiten zu begleiten.
Das Pilotprojekt wird von der Uni St.Gallen sowie der ZHAW über voraussichtlich zwei Jahre begleitet. Dann werden die Ergebnisse evaluiert und ausgewertet. Die Angehörigen werden dazu befragt, genau so wie die Familienberatungsstelle, Staatsanwälte und sonstige Involvierte. Möglich wäre es laut Reifler, dass das Projekt bei positiven Auswirkungen ebenfalls auf andere Kantone ausgeweitet werden könnte.
Kritik lässt nicht auf sich warten
Im Kanton St.Gallen wird sich die Situation mit dem Erweiterungsbau in Altstätten grundsätzlich verbessern. Die Infrastruktur bietet Platz für Gruppenvollzug, Sport- und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie sozialarbeiterische und medizinische Angebote. Denn: Der Gefängnisalltag soll mehr Struktur erhalten, und damit auch einen wichtigen Beitrag für die Gesundheit der Inhaftierten leisten.
Den Verantwortlichen ist jedoch auch klar: Die Gratwanderung zwischen einem menschenwürdigen Vollzug und der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sowie den Interessen der Strafverfolgung ist ein schmaler. Nicht alle werden es gutheissen, wenn Inhaftierte Yoga ausüben können oder nur schon das Weltgeschehen über den Bildschirm mitverfolgen können. Doch diese Kritik greife zu kurz, wie Reifler festhält. Denn die U-Haft diene in einem engen rechtlichen Rahmen dazu, abzuklären, ob ein Mensch die besagte Tat wirklich verübt habe. «Die U-Haft ist noch keine Strafe – die Strafe ist der Freiheitsentzug nach einer rechtmässigen Verurteilung.»
Der Staat habe eine Fürsorgepflicht zu leisten, und erwarte von den Inhaftierten, dass sie danach straffrei leben und etwas dazulernen – und das könne nur an einem Ort stattfinden, an welchem sich die Menschen wohlfühlen können. Reifler: «Uns muss bewusst sein, dass alle Menschen, die sich in U-Haft befinden, wieder einmal zurück in die Gesellschaft kommen. Damit sich diese Menschen korrekt verhalten, müssen wir sie ebenfalls so behandeln.»
(Bilder: Depositphotos/pd)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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