Die Füsse seiner Schülerinnen waren das Objekt der heimlichen Begierde einer St.Galler Lehrperson. Er filmte diese offenbar während des Unterrichts. Was kann ein solcher Übergriff bei den Mädchen auslösen? Psychologe Peter Flury-Kleubler ordnet ein.
Peter Flury-Kleubler, eine Lehrperson an der «Flade» soll die Füsse einiger Mädchen während des Unterrichts gefilmt haben. Einige werden sich vielleicht denken: Nicht so schlimm, sind ja «nur» Füsse. Wie denken Sie als Fachperson darüber?
Wenn das Erleben der Mädchen der Massstab für die Bewertung ist, dann müsste ich wissen, wie die betroffenen Mädchen das Geschehen erlebt haben, was ihn ihnen vorgegangen ist. Da gab es Erfahrungen während der Unterrichtsstunden: Wie haben die Mädchen erlebt, wie der Klavierlehrer mit ihnen während des Unterrichts umgegangen ist? Wie weit haben sie einzelne Erfahrungen als unverständlich erlebt oder als erniedrigend?
Und wie haben sie erlebt, was im Nachhinein in ihnen vorgegangen ist, als sie wussten, dass ihre Füsse gefilmt worden waren? Was dann in ihnen vorgegangen ist, ist auch stark davon beeinflusst, wie die Menschen in ihrer Umgebung auf die Situation reagiert haben.
Für die meisten ist ein sexueller Übergriff erst dann gegeben, wenn intime Bereiche angefasst werden. Ist das ein Trugschluss?
Der Begriff des sexuellen Übergriffs bezieht sich auf sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person. Dazu gehören Handlungen, bei denen der Körper einer Person gegen ihren Willen berührt wird. Ob jemand es als übergriffig empfindet, dass Körperteile betrachtet oder aufgenommen werden, ist im Begriff des sexuellen Übergriffs nicht berücksichtigt.
Die Schülerinnen und Schüler haben offenbar mehrfach auf die Missstände hingewiesen. Lange Zeit passierte jedoch nichts. Sie kennen natürlich die genauen Umstände von aussen nicht. Grundsätzlich: Was macht das mit einem Mädchen oder Jungen, der darüber spricht und Hilfe erwartet, aber nichts passiert?
Wenn man etwas anspricht und nicht ernst genommen wird, kommt ein Gefühl von Ohnmacht und Ärger auf.
Bis zu einer möglichen Anklage gilt immer die Unschuldsvermutung. Wenn der Fall sich nun jedoch so ereignet und die Lehrperson seinen Fetisch ausgelebt hätte: Welche Folgen könnte das für die vermeintlichen Opfer haben?
Die Folgen hängen stark von der inneren Verarbeitung ab. Insofern haben die Menschen in der Umgebung durch ihre Art der Reaktion Einfluss auf die Folgen. Dieser Prozess ist nach wie vor im Gange, auch über die öffentliche Reaktion in den Medien.
Sind die Folgen identisch oder ähnlich, egal, um welchen Missbrauch es sich handelt?
Ob ein belastendes Lebensereignis zur Traumatisierung eines Menschen führt, hängt zentral davon ab, ob die betroffene Person sich während des Ereignisses als ohnmächtig ausgeliefert oder als handlungsfähig erlebt. Ein Autorennfahrer, dessen Fahrzeug sich überschlägt, der sich aber trotzdem als handlungsfähig erlebt, wird durch den Unfall unter Umständen körperlich schwer verletzt, aber nicht traumatisiert. Jemand, der am Rotlicht stehend im Rückspiegel wie gelähmt sieht, wie ein Auto von hinten im Schritttempo auf das eigene Auto auffährt, kann unter Umständen ein Schleudertrauma mit lebenslangen Folgen davontragen.
Das heisst, dass die Folgen nicht nur von der Handlung des anderen abhängen, sondern auch von der eigenen inneren Reaktion. Von Bedeutung sind sicher das Alter zum Zeitpunkt des Geschehens, die persönliche Beziehung zum Akteur und die körperlichen Folgen.
In der heutigen Zeit mit den digitalen Medien und technischen Instrumenten sind solche Übergriffe viel schneller möglich als in der Vergangenheit. Müssten die Schulen und die Verantwortlichen künftig auf solche Rückmeldungen schneller oder anders reagieren?
Meldungen von Schülerinnen und Schülern sind ernst zu nehmen. Und eine umfassende Beurteilung ist jeweils erst möglich, nachdem auch die beschuldigte Person angehört worden ist.
Was raten Sie möglichen Opfern: Hilfe holen oder ist das nicht in jedem Fall nötig?
Wenn einen ein Erlebnis innerlich verfolgt, ist geeignete Unterstützung eine Chance, um das Erlebnis überwinden zu können. Je früher dies geschieht, desto besser sind die Aussichten.
(Symbolbild: Depositphotos/pd)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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