Die Studie rund um die sexuellen Missbräuche in der Katholischen Kirche zog «tsunami-ähnliche Folgen mit sich», sagt Verwaltungsdirektor Thomas Franck. Nebst der Aufarbeitung befasst man sich nun mit den finanziellen Folgen.
Über ein halbes Jahr ist mittlerweile vergangen, seitdem die Schweizer Pilotstudie rund um sexuelle Übergriffe den Ruf der Katholischen Kirche in Mitleidenschaft zog. Kein Wunder: Schliesslich wurden zwischen 1950 bis 2022 über 1‘000 Missbrauchsfälle identifiziert. Auch wenn viele der Fälle bereits Jahrzehnte zurückliegen: Das Leid der Opfer ist für Aussenstehende kaum nachvollziehbar und begleitet sie wohl ihr ganzes Leben. Drei Viertel der Missbrauchsfälle betrafen Minderjährige. Die Beschuldigten waren bis auf wenige Ausnahmen Männer. Die Taten wurden bis anhin nicht aufgeklärt, sondern vertuscht oder verschwiegen.
Zwei blaue Augen
Seither wurde viel darüber berichtet, der Aufschrei in der gesamten Schweiz war gross. Das Weltbild der Kirche wankte, für viele treue Kirchgänger war die logische Konsequenz der Austritt aus ebenso dieser Institution. Über ein halbes Jahr später liegen nun die Folgen schwarz auf weiss vor. Man habe erwartet, dass es auch in der Katholischen Kirche im Kantons St.Gallen wegen der Missbrauchsstudie zu vielen Kirchenaustritten komme, so Thomas Franck, Verwaltungsdirektor des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St.Gallen. «Wir sind jedoch quasi mit zwei blauen Augen davongekommen. Die Zahlen haben sich gegenüber dem Vorjahr zwar verdoppelt – ursprünglich mussten wir jedoch von noch höheren Austrittzahlen ausgehen.»
Franck spricht von einem «Tsunami», der nach der besagten Studie über die Katholische Kirche hereinbrach. Wochenlang waren die Schlagzeilen in den Medien zu lesen, Schicksale wurden veröffentlicht, die sprachlos machten. Und dies widerspiegelt sich nun in den neusten Zahlen: 2023 haben im Kanton St.Gallen 7‘372 Menschen der Kirche den Rücken gekehrt. Ein Jahr zuvor waren es noch 3‘685 Menschen. Neu beträgt das Total der Katholikinnen und Katholiken im Kanton St.Gallen bei 202‘867.
Spiegel der Gesellschaft
Auch wenn man mit höheren Kirchenaustritten rechnen musste – von einer Erleichterung möchte Franck in diesem Zusammenhang nicht sprechen. «Die Zahlen sind dramatisch hoch, jeder einzelne Austritt tut weh, das lässt sich nicht schönreden. Man muss jedoch auch den Zusammenhang relativieren.» Denn jede Generation sei weniger religiös, gesellschaftliche Normen im religiösen Bereich gäbe es längst nicht mehr und die Menschen würden sich ihren eigenen Weg suchen. Die Zahlen seien ein Spiegel der Gesellschaft – eine Gesellschaft, die inzwischen insbesondere durch ihre Religionsvielfalt geprägt werde.
Trotzdem liegen anstrengende Wochen und Monate hinter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ständig an der Front zu sein, und die Reaktionen auf die Studie abzubekommen – das kann herausfordernd sein. «Die Situation ist unangenehm für uns und schwer zu ertragen», fasst es Franck zusammen. Die Fälle betreffen zwar die Kirche als Ganzes, aber bis auf wenige Ausnahmen würden sich die Mitarbeitenden korrekt verhalten, wie die Studie zeige. Man sei nicht selber involviert, spüre aber dennoch den Unmut und die Fassungslosigkeit der Menschen.
Inzwischen habe sich die Situation wieder etwas entspannt. Trotz der schwierigen Umstände sei es richtig gewesen, die Geschichte der Kirche aufzuarbeiten und «sauberen Tisch zu machen». «Ja, es war unbequem und es hat geschmerzt. Dennoch war es wichtig, gerade für die Opfer», so Franck.
Hohe Einbussen?
Die vermehrten Austritte ziehen unweigerlich auch finanzielle Folgen für die Kirche mit sich. Diese seien vor allem auf kommunaler Ebene absehbar, sagt Franck. «Je nachdem, wie finanzkräftig die Menschen sind, die aus der Kirche ausgetreten sind, sind die Folgen pro Kirchgemeinde individuell.» Die Rechnung 2023 sei davon noch nicht betroffen. Die Einbussen seien wohl erst in der Rechnung 2024 und dann in den Folgebudgets ersichtlich. Derzeit gehen die Experten davon aus, dass die Einbussen wohl an die vier Millionen Franken ausmachen werden.
Doch wo wird künftig eingespart? Darüber entscheiden die örtlichen Kirchgemeinden. Klar ist derzeit, dass beim Katholischen Konfessionsteil kein «Rasenmäherprinzip» angewendet wird, sagt Franck. Die Kürzungen werden also nicht linear vorgenommen, sondern punktuell angesetzt. «Brechen Gelder weg, wird man beim Einsatz der Finanzen, von denen Menschen aller Generationen und in verschiedensten Lebenssituationen profitieren, noch mehr abwägen müssen», sagt Franck.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es an der Geschichte dennoch: Nebst der Zahl der Austritte hat auch diejenige der Eintritte zugenommen. Immerhin 82 Menschen sind im vergangenen Jahr der Kirche beigetreten, ein Jahr zuvor waren es noch 58. «Über die möglichen Gründe können wir zwar nur spekulieren. Die Zahl freut uns aber sehr, dass die Kirche auch in turbulenten Zeiten Zuspruch erhält.»
(Bild: Archiv)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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