Das Gelände der Psychiatrie St.Gallen am Standort Wil umfasst die Grösse von mehreren Fussballfeldern. Wie ein Flyer verrät, gilt es als entspannende Naturoase. Für die Bevölkerung sollen keine Schwellenängste zum Areal der Psychiatrie St.Gallen in Wil bestehen.
Verschiedene Betriebsgebäude sowie Häuser für Patienten und Bewohner stehen über die weitläufige Fläche verteilt. Sie sind von einem alten Baumbestand umgeben. Im Gelände fallen unterschiedliche Objekte wie verstreute Farbtupfer auf. Dazu gehören etwa Fabelwesen, bepflanzte Vogelhäuschen und auch bunt bemalte Skulpturen. Zudem wurden Gerätschaften aus dem ehemaligen Landwirtschaftsbetrieb zu Dekoobjekten umgenutzt.
Geschaffen wurden sie von Patientinnen und Patienten, die die naturgestützte Therapie der Psychiatrie St.Gallen in Wil besuchen. «Als offenes Atelier mit einer eigenen Dynamik bietet das Naturatelier Freiraum für spielerische und künstlerische Gestaltung», ist auf einer Infotafel vor dem entsprechenden Gebäude zu lesen. «Beim Experimentieren und Gestalten mit Materialien, die sich überwiegend in der Natur finden, werden ungeahnte Ressourcen freigesetzt.»
Unterstützung durch Fachpersonen
Dominic Scheuring ist stellvertretender Leiter des Ateliers. Der 35-jährige sitzt an einem massiven Tisch mit einer Mosaikfläche und erzählt von seiner Tätigkeit. Patientinnen und Patienten der Ateliers haben das Mosaik in Blautönen angefertigt. Menschen mit Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen und weiteren psychischen Leiden betätigen sich hier. Scheuring und seine Arbeitskollegen unterstützen sie mit handwerklichem und therapeutischem Knowhow, beispielsweise wenn ein Objekt aus Zement entstehen soll, oder wenn mit Pflanzenmaterial gearbeitet wird. Die Menschen mit psychischen Erkrankungen werden dabei bei der Entfaltung ihrer schöpferischen Kräfte angeregt.
Leistungsdruck als Krankheitsauslöser
«Bei uns steht nicht die Leistung im Vordergrund», stellt Dominic Scheuring klar. Vielmehr wird auf den kreativen Umgang mit der Natur gesetzt, dieser fördert laut Infotafel einen emotionalen Entwicklungsprozess.
Er unterstützt die Genesung und die Resozialisierung der Patientinnen und Patienten. Dazu gehört gemäss dem ausgebildeten Agogen auch, neues Selbstvertrauen durch Erfolgserlebnisse aufbauen zu können. Psychische Krisen können Zweifel an der eigenen Identität sowie an den eigenen Fähigkeiten auslösen. Einige Patienten müssen zudem ihren permanenten inneren Leistungsdruck überwinden, der sie in die psychische Krise führte. Darunter sind laut Scheuring gelegentlich auch Landwirte.
Teil des therapeutischen Prozesses ist auch die Zusammenarbeit von Patientinnen und Patienten. «Manchmal arbeitet ein sehr aktiver Patient mit einem, der momentan über wenig Eigeninitiative verfügt zusammen», erzählt der Agoge als Beispiel für die gruppendynamische Wirkung der naturgestützten Therapie.
Rückzugsort in Naturoase
Zum Komplex des Naturateliers gehört auch ein Gewächshaus, das als «Grüne Oase» beschriftet ist. Im Innern plätschert ein Bächlein, in dem Goldfische schwimmen. Die Bepflanzung ist mit unterschiedlichen kreativen Skulpturen angereichert. Die Atmosphäre wirkt sehr idyllisch. «Bereits ab Februar ist es hier drin angenehm warm», erklärte Dominic Scheuring. «Die Patientinnen und Patienten halten sich dann hier gerne auf.»
Ein weiterer Teil des Naturateliers bildet ein Gehege mit sieben Eseln im Rahmen der Tiergestützten Therapie. Unter Anleitung von José Marquez, Leiter Tiergestützte Therapie, werden die Tiere täglich von Patientinnen und Patienten gepflegt und gefüttert. Die Huftiere ermöglichen etwa Menschen mit traumatisierenden Beziehungserfahrungen allmählich wieder Vertrauen zu einem Lebewesen zu entwickeln und auch Verantwortung zu übernehmen. «Die Tiere sind bei den Patienten sehr beliebt», erläutert Dominic Scheuring. «Sie sagen, man könne ihnen alle Sorgen anvertrauen, ohne dass sie es weitererzählen.»
Für die stationären und die ambulanten Patientinnen und Patienten bietet die Psychiatrie St.Gallen am Standort Wil eine ganze Reihe weitere Ateliers zur therapeutischen kreativen Betätigung an. Es bestehen Möglichkeiten für Arbeiten mit Keramik, Textilien, Speckstein, Papier, Holz, Glas und neuen Medien. Im Weiteren kann auch musiziert und Theater gespielt werden.
Ehrendoktor für die Arbeitstherapie
Der Standort Wil der Psychiatrie St.Gallen wurde 1892 als «Kantonales Asyl Wil» eröffnet. Erster Anstalts-Direktor war Heinrich Schiller (1864–1945). Er blieb bis 1934 im Amt. Er legte grossen Wert auf Selbstversorgung, deshalb wurde der landwirtschaftliche Gutsbetrieb erheblich ausgebaut.
Es wurde Milchwirtschaft, Schweinemast, Obst- und Ackerbau betrieben. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts galt der Gutsbetrieb als Musterinstitution. Schiller zählte zu den Pionieren der sogenannten Arbeitstherapie, in der Patientinnen und Patienten bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten, wie etwa Brennholz stapeln, Fallobst auflesen und bei der Kartoffelernte eingesetzt wurden. Für seine Verdienste um die Förderung der Arbeitstherapie verlieh die Universität Bern Schiller 1935 die Ehrendoktorwürde.
Im Jahr 2007 endete die Ära des einstigen landwirtschaftlichen Gutsbetriebs. Ein wesentlicher Teil des Areals wird heute von der Stiftung Heimstätten Wil genutzt. Sie ist 1994 aus der Psychiatrie St.Gallen hervorgegangen und kümmert sich um die Betreuung von Menschen mit dauerhaften geistigen und psychischen Beeinträchtigungen. Einzelne Bewohner werden im ehemaligen Gutsbetrieb in geschützten Arbeitsplätzen beschäftigt, etwa in Gemüsebeeten.
(Bilder: Adrian Zeller)
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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