Sehr ernsthaft habe der Ausserrhoder Kantonsrat in der vergangenen Woche die 138 Artikel einer neuen Kantonsverfassung bearbeitet und schliesslich mit 56 Ja-Stimmen gegen sechs Nein in erster Lesung gutgeheissen, schreibt Beobachter Hanspeter Strebel.
Text: Hanspeter Strebel, im Auftrag des Kantons Appenzell Ausserrhoden
Am ersten Sitzungstag machte das Wort «Mehrheitsfähigkeit» die Runde. Es fiel immer dann, wenn eine als umstritten angesehene Bestimmung zur Beratung anstand. Nach fast sechs Jahren intensiver und aufwendiger Vorbereitungen, die dem ursprünglichen Auftrag der Wählerschaft vom März 2018 folgten, steht nach einer zweiten Lesung in Regierungs- und Kantonsrat eine weitere, abschliessende Volksabstimmung an.
Dabei können die Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von den einzelnen Artikeln, lediglich mit 'Ja' oder 'Nein' entscheiden. Für den Kantonsrat ging es also unter anderem auch darum, eine Kumulierung möglicher Widerstände gegen einzelne Artikel in einer Volksabstimmung zu verhindern. Dieses Anliegen prägte die Diskussion im Rat bisweilen stark.
Die vermutlich kontroversesten Punkte waren schon im Vorfeld bekannt. So war es keine Überraschung, dass es dabei zu langen Diskussionen und hitzigen, aber durchwegs fairen Debatten kam. Das war ein Zeugnis der appenzellischen Kultur und gereicht dem Kanton durchaus zur Ehre. Im Vordergrund standen dabei die Anrufung von Gott in der Präambel, die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre, ein kantonales Ausländerstimmrecht, die Frage des Wahlsystems für den Kantonsrat sowie die Bezeichnung und die Wahl des Landammannamtes.
Kein Routinegeschäft
Neben der unüblichen Ansetzung auf zwei Tage, die schliesslich auch vollends ausgeschöpft wurden, wiesen schon die einleitenden Worte von Ratspräsident Hannes Friedli (SP, Heiden), Landammann Yves Noël Balmer und Kommissionspräsident Marc Wäspi (PU, Herisau) darauf hin, dass es sich keineswegs um ein Routinegeschäft handle, sondern um eine für die nächsten Jahre grundlegende Vorlage.
Balmer sprach von einem «Gesellschaftsvertrag». Friedli nannte sie «Regeln, die alle betreffen und allen nützen». Wäspi wies darauf hin, dass es unmöglich sei, alle Meinungen über die politischen Ausrichtungen und generations- und gesellschaftsbedingten Interessen unterzubringen. Deshalb sei ein «Gesamtkonsens» wichtig, bei dem jeder und jede etwas nehmen und geben könne, weshalb eine ausführliche Debatte der Volksvertretung wichtig und richtig sei.
Gott bleibt erhalten
Ein Punkt, der in der bisherigen Arbeit und im Vorfeld zu hitzigen Diskussionen führte, war die Präambel. Der Regierungsrat hatte auf Grund der Vernehmlassung einige Textänderungen vorgenommen, und insbesondere die explizite Anrufung Gottes wieder eingeführt, obwohl dies die Verfassungskommission nach langen Diskussionen einstimmig ablehnte. Die parlamentarische Kommission unterbreitete dem Rat zwei als «gleichwertig» bezeichnete Versionen mit und ohne Gottesbezug, machte aber keinen Hehl daraus, dass sie die Gottesanrufung bevorzuge.
Auch wenn eindringlich auf eine Kollision mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit und vor allem auf die seit der letzten Revision massiv gesunkene religiöse Ausrichtung der Gesellschaft hingewiesen wurde, obsiegte am Ende mit grosser Mehrheit die Version mit Gottesbezug.
Weiterhin ohne Hauptort
Während damit ein möglicher Stolperstein wohl aus dem Weg geräumt war, kam eine Debatte um die Beibehaltung des Verzichts auf die Nennung eines Hauptortes eher überraschend. Angestossen hatte sie die Fraktion Mitte/GLP/EVP, die beantragte, man solle dem Faktischen Rechnung tragen, wonach Herisau allgemein als Hauptort angesehen werde. Dem wurde entgegengehalten, man müsse der Geschichte und der Tradition Respekt zollen und dem Umstand Rechnung tragen, dass das Gericht und weitere Institutionen des Kantons nach wie vor in Trogen beheimatet seien.
Es sei unnötig, in dieser Frage einen Konflikt unter den Regionen heraufzubeschwören oder aufzuwärmen. Auch andere Kantone würden keinen Hauptort benennen. Der Antrag wurde denn auch klar verworfen.
In der Folge kam es bereits am ersten Sitzungstag zu einigen erfolgreichen Rückweisungsanträgen an die Regierung mit dem Auftrag, weitere Abklärungen zu treffen oder Vorschläge zu machen, etwa was die Erwähnung der Kinderrechte, die Begabtenförderung und die ausdrückliche Förderung des dualen Bildungswegs betrifft. Eine längere und recht gehaltvolle Debatte, in die sich auch Bildungsdirektor Alfred Stricker aktiv eingab, galt dem Thema Schulen. Sie endete aber ohne wesentliche Änderungen des Verfassungsartikels, etwa auch was die Wahrnehmung einer Mitverantwortung bei der Erziehungsaufgabe durch Kanton und Gemeinden (neben den Eltern) betrifft.
Regionalen Journalismus stärken
Nochmals überdenken muss die Regierung nach einem erfolgreichen Antrag der SP-Fraktion Möglichkeiten zu einer Förderung des regionalen Journalismus, obwohl mehrfach betont wurde, dies dürfe keinesfalls eine Staatsaufgabe werden. Dem wurde entgegengehalten, das zunehmende Verschwinden regionaler Medien und der Abbau von seriöser Regional- und Lokalberichterstattung könne die Demokratie gefährden. Ohne professionellen Journalismus fehle ein Korrektiv zu den sozialen Medien.
Die Debatte in den sozialen Medien nähme Überhand, wo die Reduktion auf politische Schlagworte gefördert und extremen Aussagen bis hin zu Verschwörungserzählungen Vorschub geleistet werde. Es gelte hier wenigstens ordnungspolitische Grundlagen in der Verfassung zu schaffen.
Trotz Angriffen vor allem vonseiten der SVP blieb es in den Klima- und Energieartikeln bei der Festhaltung des Ziels, wonach Kanton und Gemeinden den Energieverbrauch bis ins Jahr 2050 pro Jahr und Person auf die Hälfte des Standes von 2015 senken sollten. Es gelte zudem eine «aktive Klimapolitik» zu betreiben, um auch die negativen Folgen des Klimawandels zu bewältigen.
Erfolgreiches Stimmrechtsalter 16
Die dominierende Debatte des ersten Tags blieb erwartungsgemäss der Artikel Stimm- und Wahlrecht, wobei aber kaum neue Argumente auftauchten. Die SVP hatte bereits im Vorfeld kommuniziert, dass sie sowohl die Herabsetzung des Stimmrechts von 18 auf 16 Jahre wie auch das Ausländerstimmrecht mit bestimmten Karenzfristen nicht goutieren werde. Eine Zustimmung für den Vorschlag von Regierungsrat und Kommission bezeichnete die Partei als «Rote Linie», wovon ein Ja zum gesamten Revisionsvorhaben abhänge.
Generell gehe es hier um ein sehr kontroverses Thema, das kaum eine Mehrheit im Volk finde, befand die Opposition. Die Befürwortenden hoben hervor, dass die Senkung des Stimmrechtsalters lediglich das aktive Stimmrecht betreffe. Wählbar in ein Amt wären nach wie vor erst 18-Jährige. Sie verwiesen in Bezug auf das Ausländerstimmrecht zudem auf positive Erfahrungen in vier Gemeinden, in denen das kommunale Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer bereits umgesetzt wurde.
Ein Kantonsrat, der selbst ursprünglich aus Amerika stammt und heute sowohl Schweizer Staatsbürger als auch ein sehr aktives Mitglied der Behörde ist, betonte, dass ihm das Ausländerstimmrecht die Integration erleichtert habe. Er merkte auch an, dass dies sogar einen Vorteil für den Standort darstellen könnte. Eine Frage, wovor man denn konkret Angst habe bei der Senkung des Stimmrechtsalters und der Ermöglichung des Ausländerstimmrechts, es gehe ja kaum um eine starke Zahl von Nutzerinnen und Nutzern, blieb unbeantwortet.
Beide Anliegen fanden schliesslich keine überwältigende, aber eine solide Mehrheit. Gespannt blickt man nun auf die Volksdiskussion und auf ein Standhalten in der zweiten Lesung.
Wieder einmal der Proporz
Der zweite Sitzungstag stand klar im Zeichen eines alten, schon mehrfach diskutierten und zur Abstimmung gebrachten Anliegens der Umstellung auf das Proporzsystem für die Wahl in den Kantonsrat. Hier gab es insgesamt vier Gegenanträge zum Vorschlag des Regierungsrates nach der integralen Wahl im Verhältniswahlrecht (Proporz).
Die vorberatende Kommission wünschte auf die zweite Lesung einen Eventualantrag zur Beibehaltung des bisherigen Mischsystems, wonach Herisau als grösster Ort sein Proporzsystem beibehalten könnte und es den anderen Gemeinden wie bisher freistehen würde, bei einem Ja der lokalen Stimmberechtigten ebenfalls auf dieses System umstellen zu können. Dies würde bei den derzeitigen Einwohnerzahlen realistischerweise lediglich für Teufen und Speicher Sinn machen.
Den Stimmberechtigten sollte also eine Variante unterbreitet werden. Ein weiterer Antrag aus der Ratsmitte wollte grundsätzlich beim bestehenden System bleiben und das Proporzsystem nicht zur Abstimmung bringen.
Landammann Balmer verteidigte den regierungsrätlichen Vorschlag und verwies auf die weiterhin unsichere Lage, ob das Festhalten am Majorz noch bundesrechtskonform sei; obwohl das Bundesgericht von seiner früheren Drohung, es werde aufgrund der Rechtsgleichheit korrigierend eingreifen, in einem jüngeren Entscheid wieder etwas abgerückt sei. Es gelte, sich nicht darauf zu verlassen. Das sei jedenfalls weniger risikobehaftet. Er stellte aber in Aussicht, mit einem Eventualantrag auf die zweite Lesung hin den Stimmberechtigten bei der Abstimmung über die ganze Verfassung die Auswahl zu überlassen.
Nein zur Umstellung
In der knapp dreistündigen Debatte hiess es, das bisherige System sei «ein Erfolgsfaktor» auf den man stolz sein könne. Mit der Zeit komme der Proporz wohl ohnehin, dies aber «von unten her». Jetzt sei man nicht reif für eine solche Umstellung. Immer noch sei der Kanton nicht besonders parteienaffin, und das werde angesichts des zunehmenden Schwundes von eingeschriebenen Mitgliedern wohl so bleiben. Vor allem von SP-Seite her kamen befürwortende Voten für eine Umstellung. Dies wäre fair und ein «Mehrwert für die Demokratie». Es gehe bei der Beibehaltung des Mischsystems vornehmlich um einen „Machtanspruch“ der dominierenden FDP. Weder die Regierungsversion noch diejenige der Kommission fanden eine Mehrheit, sondern der Antrag zur Beibehaltung des Status quo aus der Ratsmitte obsiegte mit 42:20 Stimmen.
Danach soll zwingend am bisherigen Mischsystem und der minimalen Sitzgarantie auch für kleinste Gemeinden festgehalten werden.
Allerdings müsse eine angepasste Version sicherstellen, dass diese mit bundesrechtlichen Vorgaben konform sei. Gemäss Landammann Balmer ist damit die flächendeckende Einführung des Proporzsystems «vom Tisch».
Keine Chancen hatten in der Folge ein Antrag auf Überprüfung der Unterschriftenzahlen für Referenden und Volksinitiativen und auf eventuelle Einführung einer Volksmotion. Mit der bereits aktuellen, wenn auch wenig genutzten «Einheitsinitiative»habe man bereits eine «sensationelle» und niederschwellige Möglichkeit der demokratischen Mitwirkung. Man solle keine Lösungen suchen, wo keine Probleme seien. Erfolgreicher war das Begehren zur Prüfung der Einführung einer Stellvertretungsregelung für den Kantonsrat bei längerer Ratsabwesenheit (wie Krankheit oder Mutterschaft).
Es bleibt beim Landammann
Noch einmal heftig diskutiert wurde die Benennung des Vorsitzes im Regierungsrat, wobei nach vorläufiger Stimmengleichheit und folgenden Konfusionen schliesslich der Antrag des Regierungsrats eine Mehrheit fand, die Bezeichnung Landammann zu belassen. Die Kommission hatte unter Hinweis auf die geänderte Funktion nach der Abschaffung der Landsgemeinde und die geschlechtliche Problematik, die neue Bezeichnung Regierungspräsident/Regierungspräsidentin vorgeschlagen.
Abgelehnt wurden auch ein Rückweisungsantrag der FDP, den Kantonsrat als Wahlorgan vorzusehen. Ein weiterer Rückweisungsantrag, beim bisherigen System der Volkswahl zu bleiben, wurde daraufhin zurückgezogen. Es bleibt beim Vorschlag des Regierungsrats, der sich jährlich selbst konstituieren will. Die problemlos neu eingeführte Ombudsstelle werde die bisherige Funktion einer «Klagemauer» und erste Ansprechstelle für Bevölkerungsanliegen einnehmen. Damit verändere sich das Profil des Landammannamtes zusätzlich. Länger diskutiert wurde schliesslich auch über das Fachgremium, das alle Wahlen in die gerichtlichen Behörden zuhanden des Kantonsrates vorbereiten soll.
Klares Ja in der Gesamtabstimmung
Nach insgesamt rund 14 Stunden während zwei Sitzungstagen waren die Diskussionen (inkl. die Ratsmitglieder und Berichterstattenden samt dem Personal für den Live-Stream) erschöpft. In einer vorläufigen Schlussabstimmung wurde die erste Lesung einer neuen Kantonsverfassung mit 54 Ja gegen sechs Nein und einer Enthaltung beendet. Landammann Balmer zeigte sich in einer ersten Reaktion «grossmehrheitlich zufrieden». Der Regierungsrat hat nun die überwiesenen Aufträge zu prüfen. Nach Auswertung der nun folgenden Volksdiskussion soll womöglich diesen Herbst die zweite Lesung erfolgen. Danach könnte die abschliessende Volksabstimmung erfolgen.
Bei uns publizieren Autorinnen und Autoren mit Expertise und Erfahrung zu bestimmten Themen Gastbeiträge. Diese müssen nicht zwingend mit der Meinung oder Haltung der Redaktion übereinstimmen.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.