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Wahre Verbrechen (3)

Ohne Motiv kein Täter: Der Fall Altendorf

In der Schweiz ist es alles andere als an der Tagesordnung, dass bei einem Raubüberfall ein Mensch sein Leben verliert. Spektakuläre Fälle mit diesem Ausgang liegen oft lange zurück. Wie dieser Fall in Altendorf im Kanton Schwyz. Bis heute ist der Mord an einer jungen Frau ungelöst.

Stefan Millius am 15. Juli 2022

Am 27. Februar 2004 geschah es aber, mitten am Tag, kurz vor oder nach 16 Uhr und in einer für Verbrechen kaum bekannten Gegend, der Gemeinde Altendorf (SZ). Patricia Wilhelm (22), Angestellte eines Reisebüros, stirbt durch zwei Kugeln aus einer Schusswaffe. Der oder die Täter erbeuten eine Geldkassette mit rund 1000 Franken, das Portemonnaie des Opfers mit Kreditkarten sowie ihr Notizbuch mit Terminen und Adressverzeichnis.

Zunächst von Raubmord ausgegangen

Wie üblich ermittelt die Polizei in alle Richtungen, doch im Fokus steht zunächst das Naheliegendste: Ein Raubmord. In diesem Fall hätte es auch jede andere Angestellte treffen können. Eine Ausgangslage, welche die Suche nach der Täterschaft erschwert. Denn wenn das Opfer zufällig gewählt wird, ergeben sich aus diesem keine Anhaltspunkte.

Inzwischen hat sich die Perspektive aber verschoben. Ein Raubmord ist weiterhin möglich, aber ein Beziehungsdelikt ist ebenso wahrscheinlich – oder sogar mehr als das. Damit gibt es zwei mögliche Motive, die völlig unterschiedliche Herangehensweisen für die Ermittler bedingen.

Vieles spricht gegen einen Raub

Einiges sprach schon unmittelbar nach der Tat gegen einen Raubüberfall. Zum einen ist ein Reisebüro generell kein gutes Ziel dafür. Dort wird vergleichsweise selten mit Bargeld bezahlt, auf eine grosse Beute kann man daher nicht hoffen. Das Notizbuch eines Opfers zu stehlen wirkt auch untypisch, das deutet eher auf eine Beziehung zum Täter hin. Weiter fehlten Spuren eines Kampfes. Wer bei einem Raub schiesst, tut das in der Regel, weil die Situation ausser Kontrolle gerät und der Täter sich nicht mehr anders zu helfen weiss. Dafür gab es in Altendorf keinerlei Anzeichen wie beispielsweise umgestürzte Gegenstände.

Auch die Position der Leiche sprach nicht dafür, dass es zu einer Auseinandersetzung gekommen war. Dass zwei Schüsse abgefeuert worden waren, deutete zudem auf eine gezielte Tötung hin. Und warum war später nie eine der gestohlenen Kreditkarten des Opfers benutzt worden, wenn es um Geld ging?

Rätselhafte Tatwaffe

Die zwei am Tatort aufgefundenen Patronenhülsen waren ein Unikum. Sie stammten aus 1952 und 1956 und waren mit einem Militärcode versehen. Einer davon stammte aus dem ehemaligen Jugoslawien, der andere aus der früheren Tschechoslowakei. Die Tatwaffe, eine Selbstladepistole des Typs CZ 52, war seinerzeit im Ostblock weit verbreitet, war 2004 aber in die Jahre gekommen. Wer sie einsetzt, riskiert viel: Die Chance ist gross, dass die Zündung im entscheidenden Moment versagt. Das sprach gegen einen professionellen Verbrecher wie beispielsweise einen Auftragskiller.

Anlass zu Fragen gab auch das Verhalten des Mordopfers vor dem Verbrechen. Patricia Wilhelm hatte bereits die Lehre im bewussten Reisebüro absolviert, war später in der Filiale in Thalwil tätig und erst einen Monat vor ihrem Tod wieder nach Altendorf gekommen. Am Morgen des Tattags hatte sie gegenüber ihrer Mutter angegeben, sich unwohl zu fühlen und zu kränkeln, ging aber notgedrungen dennoch zur Arbeit, weil ihre Chefin in den Ferien war.

True Crime Altdorf

Die aufgefundenen Patronenhülsen und eine Pistole des Typs CZ 52. (Bilder: zdf.de)

Was belastete das Opfer?

Rund eine Stunde vor der Tat versuchte Wilhelm, ihre Vorgesetzte telefonisch zu erreichen und hinterliess eine Sprachachricht. Diese war nicht sehr konkret, legte aber nahe, dass es etwas gab, das die Angestellte belastete. Eine ähnliche Nachricht war schon zuvor bei einer Freundin eingegangen. Wie oft bei Gewalttaten wurde das Opfer nach der Tat vom Umfeld als sorgenloser Sonnenschein beschrieben, als harmonischer Mensch. Das trifft vielleicht auch zu, doch es gab Anzeichen, dass die junge Frau in jenem Zeitraum durchaus grössere Sorgen hatte.

2019, 15 Jahre nach der Tat, unternahm die Kantonspolizei Schwyz noch einmal einen Anlauf zur Aufklärung. Der Mord wurde in der Sendung «Aktenzeichen XY» aufgerollt. Rund 30 Hinweise gingen danach ein, die Polizei bezeichnete einige davon als konkret. Einer bezog sich auf einen Doppelmord in Deutschland im Jahr 1998, bei der eine Waffe des gleichen Typs eingesetzt wurde. Doch scheint sich daraus nichts ergeben zu haben, das Verbrechen in Altendorf blieb ungelöst.

Rolle des Lehrlings «überzeichnet»

Die Sendung untermauerte im Ganzen eher die These des Beziehungsdelikts als die des Raubmords. Das aber lag auch am Format. In einer Talksendung von «Tele Züri» beschrieben die leitenden Ermittler danach das Vorgehen der TV-Produktionsfirma. Diese habe sich zwar durchaus an die Fakten gehalten, wollte aber auch emotionale Elemente. Zu diesen gehörte die umfangreiche Darstellung eines Lehrlings, der offensichtlich in einer spannungsgeladenen Beziehung zum Opfer stand. Zudem wurde sein eher fragwürdiges persönliches Umfeld thematisiert.

Die Ermittler bezeichneten diesen Teil nach der «XY»-Sendung als «überzeichnet». Es ist anzunehmen, dass sich viele der Zuschauerhinweise auf die Person des Lehrlings bezogen, weil dieser zumindest subtil in die Nähe der Tat gerückt worden war. Allerdings wurde auch er im Rahmen der Ermittlungen untersucht, aber ohne konkrete Ergebnisse.

Hoffen auf «Kommissar Zufall»

Die Spurensicherung war 2004 noch nicht auf dem heutigen technischen Stand, doch wesentliche Grundlagen waren bereits gegeben. Am Tatort wurden zwei unterschiedliche männliche DNA-Spuren gefunden. Damit stand die Möglichkeit von zwei Tätern im Raum. Weil direkte Tatzeugen fehlten, sprechen keinerlei weitere Beobachtungen für oder gegen diese These. Internationale Abgleiche blieben aber ergebnislos, der oder die Mörder waren also nicht mit ihrer DNA polizeibekannt.

Wertlos ist der Fund dennoch nicht, weil er einen späteren Treffer ermöglicht. Das dürfte auch die einzige Hoffnung auf eine Lösung des Rätsels sein: Dass die Person, die in Altendorf gemordet hat, im Zusammenhang mit einem anderen Verbrechen erwischt wird und die Datenbank eine Übereinstimmung meldet.

Einmal mehr ist also «Kommissar Zufall» gefragt. Dafür bleiben ihm noch zwölf Jahre: 2034 wird der Mord an Patricia Wilhelm verjährt sein.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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