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Interview

Rosenbergtunnel auf der A1 bei St.Gallen soll eine dritte Röhre bekommen - löst das unsere Verkehrsprobleme?

Welchen Effekt hätte die Umsetzung des Autobahn-Ausbaus für die Ostschweiz? Darüber spricht Gunnar Heipp, Professor für Verkehrsplanung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, im Interview.

Die Ostschweiz am 29. Februar 2024

Gunnar Heipp, der Rosenbergtunnel auf der A1 bei St.Gallen soll eine dritte Röhre bekommen. Und auch an fünf anderen neuralgischen Streckenabschnitten in der Schweiz ist ein Autobahn-Ausbau geplant. Löst das unsere Verkehrsprobleme?

Ja und Nein. Eine Lösung wäre mit solchen Projekten dann gegeben, wenn unabhängig von der Infrastruktur feststünde, wieviel Personen sich künftig für das Auto als Verkehrsmittel entscheiden. Verkehr ist aber immer das Abbild unserer Mobilitätsbedürfnisse. Dieses Bedürfnis von uns allen – zur Arbeit oder Ausbildung zu gelangen, zum Wandern zu gehen oder Freunde zu besuchen – verändert sich aber durch das Angebot. Möglicherweise steigen nach dem Ausbau mehr Menschen vom ÖV aufs Auto um, weil sie wieder besser vorankommen. Ausserdem wird das Problem von Überlastungen häufig verlagert.

Auf den ausgebauten Strecken mag es dann weniger Engpässe geben, aber an weniger ausgebauten Stellen und an unseren Zielorten – in den Städten und Gemeinden – dafür umso mehr. Es besteht Konsens darüber, dass der Raum dort begrenzt ist. Wir können also sinnvollerweise nicht über einen Ausbau von Nationalstrassen diskutieren, ohne die Rolle des Autos in den Städten vorab zu klären. Und in jedem Fall braucht es immer ein koordiniertes Gesamtkonzept Schiene und Strasse, so wie dies der Bund als Bedingung für die Finanzierung in Agglomerationsprogrammen zurecht verlangt.

Dann hat der Satz «Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten» etwas Wahres?

Das Gesetz von Angebot und Nachfrage lässt sich auch auf den Verkehr übertragen. Denn wir leben in einem liberalen Staat, in dem viele Menschen mit ausreichendem persönlichen Budget Wahlmöglichkeiten haben, auch bei der Frage der Verkehrsmittelwahl und bei der Wahl ihrer Ziele. Ein besseres und grösseres Strassennetz macht das Autofahren attraktiver. In einer von der freien Marktwirtschaft geprägten Gesellschaft ist es nur logisch, dass die Menschen verschiedene Möglichkeiten gegeneinander abwägen und sich für die attraktivste entscheiden. Wenn man zudem in immer kürzerer Zeit immer mehr Kilometer zurücklegen kann, verlängern sich auch die Wege. Das zeigt der Blick zurück in Zeiten, als man noch langsamer unterwegs war. Auch verschiedene Studien – zum Beispiel zur Pendlermobilität in der Schweiz – machen dies deutlich.

Liesse sich der Autoverkehr im Umkehrschluss reduzieren, wenn das Strassenangebot verkleinert würde?

Dass eine Erhöhung der Strassenkapazität zu mehr Verkehr führt, ist mehrfach wissenschaftlich erwiesen, aber zum gegenteiligen Effekt gibt es nur wenige Studien. Eine aktuelle Studie der EPFL untersucht die Effekte nun. Zudem hat sich ein Student der OST kürzlich in seiner Masterarbeit der Frage gewidmet, was bei einer Kapazitätsreduktion passieren würde. Er hat elf Praxisbeispiele in der Schweiz untersucht und ist zum Schluss gekommen, dass die Herausnahme von einzelnen Strassenabschnitten – zum Beispiel, um eine Aufwertung in einem Stadtzentrum zu erreichen – unter Berücksichtigung gewisser Faktoren zu einer geringeren Verkehrsnachfrage führen kann.

Aber hierbei geht aktuell ja niemand von einem grossflächen Abbau von Strassen aus, sondern es muss meiner Meinung darum gehen, mit dem begrenzten Budget von Bund und Kantonen möglichst viele Vorteile für die Bevölkerung zu erreichen. Und bei aktuell viel Verkehrslärm im Wohnumfeld vieler Menschen und einer gestiegenen Zerschneidung unserer Landschaft sollten wir die Prioritäten auf die Qualität der öffentlichen Räume und weniger auf die Kapazität auf Autobahnen legen. Denn wie gesagt: Jeder, der auf einer Autobahn unterwegs ist, muss irgendwann sein Ziel erreichen und ist wieder auf dem lokalen Strassennetz unterwegs, wo mehr Autoverkehr kein Ziel per se sein kann.

Initiativen, die eine Sperrung einzelner Strassen für den motorisierten Individualverkehr fordern, haben dennoch oft einen schweren Stand. Warum?

Meistens werden kleinere Veränderungen sehr aufgeregt diskutiert und deren mutmassliche Folgen ziemlich übertrieben dargestellt. Zum Beispiel wird suggeriert, dass man nach Umsetzung einer Massnahme gar nicht mehr mit dem Auto in die Stadt fahren könne. Die richtige Kommunikation ist deshalb essenziell. Wenn eine Strasse nach einem Umbau zum Beispiel lokal mehr Platz für Velofahrende und weniger für Autos erhält, haben einige Menschen oft den Eindruck, dass man ihnen etwas wegnimmt. Und es ist unbestritten, dass es für diejenigen, die jeweils auf dieser Strecke mit dem Auto unterwegs waren, etwas langsamer werden kann. Aber dafür entsteht für ganz viele Personen ein grosser Gewinn. Diese positiven Effekte einer Veränderung zu hervorzuheben und in der Debatte in eine Abwägung zu bringen, ist zentral.

Geht es nicht immer auch ein bisschen darum, Autofahrerinnen und Autofahrer in die Schranken zu weisen?

Nein, das sehe ich nicht so. Zunächst ist es wichtig, keine schwarz-weiss-Diskussionen für oder gegen das Auto zu führen. Das Auto ist grundsätzlich eine gute Erfindung. Es bietet viele Vorzüge. Diese zu nutzen und zu schätzen ist überhaupt nicht verwerflich. Trotzdem muss man das Autofahren aber gesamtgesellschaftlich betrachten und sich die Frage stellen, welche Auswirkungen es hat, wenn sich mehrere Millionen Menschen im eigenen Fahrzeug in einem relativ kleinen Land wie der Schweiz fortbewegen.

Und in einem Land mit dem besten öffentlichen Verkehr Europas haben sehr viele Menschen Alternativen, zumindest für viele Fahrten, und Millionen Menschen tun dies täglich gerne. Auch plädiere ich für einen Perspektivenwechsel. Wer regelmässig mit dem Auto durch eine Stadt fährt, kann sich zum Beispiel in diejenigen hineinversetzen, die dort an einer Hauptverkehrsstrasse mit täglich 20’000 Fahrzeugen wohnen. Unser CAS «Nachhaltige Mobilität» beleuchtet Verkehrsnetze und Strassenräume aus der Sicht aller betroffenen Akteurinnen und Akteure. Unser Ziel ist es, jenseits der ideologischen Gräben faktenbasiertes Wissen zu vermitteln, das Fachleute befähigt, Verkehrsräume als öffentliche Räume und Teil des Verkehrssystem der Zukunft mit Weitblick zu planen und zu projektieren.

Viele Menschen können aber nicht auf das Auto verzichten. Darunter Mitarbeitende von Handwerksbetrieben, Taxiunternehmen oder Personen mit einer körperlichen Einschränkung.

Das ist so. Aber genau diese Menschen haben keine andere Wahl und leiden am meisten unter den Verkehrsüberlastungen. Ihnen ist am wenigsten geholfen, wenn alle anderen mit dem Auto unterwegs sind. Folglich müssten gerade sie doch ein Interesse daran haben, dass möglichst viele in der Bevölkerung eine andere, flächeneffiziente Fortbewegungsart nutzen. Denn es steht fest, dass Autos viel Platz brauchen – wenn sie fahren und wenn sie abgestellt sind. Das ist auch bei Elektroautos nicht anders. Fakt ist zudem, dass in der Schweiz viele kurze Fahrten mit dem Auto vermieden werden könnten oder nicht zu den Hauptverkehrszeiten stattfinden müssten. Auch haben viele als Kundinnen und Kunden die Wahl, ob sie in der Nähe einkaufen und die Wertschöpfung in der Region behalten oder ob sie für den Einkauf weite Wege zurücklegen.

Die Bevölkerung in der Schweiz wächst. Das bedeutet doch mehr Verkehrsaufkommen? Braucht es nicht schlicht und einfach einen Ausbau der Strassen, um einen Kollaps zu verhindern?

Wenn alles linear wäre, dann schon. Aber wir müssen das Thema Mobilität aus einer anderen Ebene betrachten und uns die Frage stellen, ob wir eine Verkehrsplanung wollen, die auf Engpässe laufend mit Kapazitätsausbau reagiert. Denn damit nehmen wir auch in Kauf, dass immer mehr Flächen verbaut werden und immer mehr Menschen unter Lärmbelastung leiden. Ich persönlich glaube nicht, dass die konkreten Folgen in der Bevölkerung gutgeheissen werden. Dazu kommen die Kosten: einerseits für den Neubau, andererseits für den späteren Unterhalt. Wir haben bereits eines der dichtesten und besten Autobahnnetze in Europa.

Eine wirkungsvolle Alternative zum Ausbau wäre, das bestehende Netz besser zu nutzen, was im Wesentlichen mit einer zeitlichen Verschiebung eines Teils des Verkehrs einhergeht. Wenn nur 20 Prozent der Menschen ausserhalb der Stosszeiten unterwegs wären, hätte das schon einen sehr positiven Effekt. Modelle, um dieses Verkehrsaufkommen zu lenken, wären vorhanden.

Welche?

Zum Beispiel Mobility Pricing, was seit Jahren in Fachkreisen und in der Bundesverwaltung diskutiert wird. Im öffentlichen Verkehr ist dieses Modell bereits im Ansatz vorhanden. Wer beispielsweise nach 9 Uhr fährt, kann den 9-Uhr-Pass lösen und zahlt weniger. Ziel ist es, die Auslastung der Züge besser über den Tag zu verteilen. Das könnte auch beim Autoverkehr funktionieren, indem man je nach Tageszeit etwas für die Benützung der Strasse bezahlt. Mit einer besseren Verteilung des Verkehrs könnte man die Spitzen brechen. Skandinavische Städte wie Oslo oder Stockholm haben mit dieser Entzerrung der Verkehrsmengen bereits gute Erfahrungen gemacht. Auch in der Schweiz wäre dies ein gangbarer Weg. Denn rund ein Drittel der Bevölkerung ist bei der Fahrt weder beruflich noch freizeittechnisch auf einen bestimmten Zeitraum angewiesen.

Was braucht es weiter an Massnahmen, um das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung positiv zu verändern, ohne sie einzuschränken?

Zunächst einmal ist das der beschlossene weitere Ausbau des ÖV. Verkehrsdrehscheiben sollen künftig das Umsteigen von allen Verkehrsmitteln auf den ÖV weiter erleichtern. So können noch mehr Menschen zumindest einen Teil ihrer Fahrt mit der Bahn oder Bus zurücklegen. Ein erfolgreiches Instrument in der Schweiz und Europa ist das Instrument «Mobilitätsmanagament». Dabei handelt es sich um eine Kombination aus Marketing- und Angebotsmassnahmen, die speziell auf Unternehmen oder andere Zielgruppen zugeschnitten sind.

Ziel ist es, konkrete Verbesserungen bei der Nutzung von Velos, öffentlichen Verkehrsmitteln und Autos zu erreichen, um Energie einzusparen. Viele dieser erfolgreichen Programme werden vom Bund oder Kantonen gefördert. Unser Institut berät auch in diesem Feld und arbeitet mit den Regionen zum Beispiel im Kanton St.Gallen zusammen.

(Bild: PD)

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