Im Kanton St. Gallen gelten rund 80'000 Personen als arm oder armutsgefährdet. Eine Ostschweizer Sozialarbeiterin kennt sich in Theorie und Praxis mit den Lebenssituation von Menschen in prekären Verhältnissen aus: Sie hat an einer Studie zu «Working Poor» mitgearbeitet.
Im Kanton St.Gallen kommen rund 15 Prozent der Bevölkerung finanziell nur mit grosser Mühe über die Runden. Dies belegen Zahlen der Caritas. Gesamtschweizerisch rechnet die Hilfsorganisation mit rund 1,25 Millionen armutsgefährdeten Menschen, Tendenz steigend. Die Kundschaft der Caritas-Märkte, die an Berechtigte verbilligte Produkte abgeben, hat sich seit Beginn des Ukrainekriegs vermehrt. Ein Grund dafür ist der Preisanstieg verschiedener Lebensmittel im regulären Handel, etwa von Teigwaren.
Nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben
Im Kanton St. Gallen wirkt sich die enge finanzielle Situation der Eltern auch auf rund 24'000 Kinder aus. «Eine armutsbetroffene Einzelperson hat in der Schweiz maximal 2289 Franken monatlich zur Verfügung, eine vierköpfige Familie mit Eltern und zwei Kindern 3 989 Franken», schreibt Caritas. Aus diesen Beträgen müssen Wohnungsmiete, Krankenkasse, Essen, Kleidung, Kommunikation, Energie, Körperpflege, Gesundheitskosten, Verkehrsauslagen sowie die Haushaltführung finanziert werden.
Laut dem Bundesamt für Statistik müssen 7,9 Prozent der Bevölkerung aus finanziellen Gründen auf regelmässige kostenpflichtige Freizeitaktivitäten verzichten, 3,5 Prozent können sich nicht von Zeit zu Zeit neue Kleider kaufen und 3 Prozent können es sich nicht leisten, mindestens einmal pro Monat Freunde oder Verwandte zum Essen oder Trinken zu treffen.
Frauen häufiger betroffen
«In der Schweiz kämpft sich ein Teil der Menschen irgendwie durchs Leben», weiss Esther Hilber. Die Sozialarbeiterin hat zusammen mit einer Studienkollegin eine schriftliche Arbeit zum Thema «Working Poor» verfasst. Rund 157'000 Personen gelten in der Schweiz als Personen, die trotz Erwerbsarbeit arm sind. Hierbei spielt auch das Geschlecht eine wichtige Rolle, Frauen sind gemäss Zahlen des Bundesamtes für Statistik häufiger betroffen, sie arbeiten vermehrt in Tieflohnbranchen.
Zudem kommen vor allem viele Alleinerziehende nur mit Mühe finanziell über die Runden. Ebenso zählen Zugewanderte überdurchschnittlich häufig zu den «Working Poor». Sie verfügen zum Teil über keine nachschulische Ausbildung und sind deshalb oft als ungelernte Hilfskräfte angestellt, mit entsprechend bescheidenem Einkommen.
Vermehrtes Wissen hilft
An ihrem Arbeitsort, einer Beratungsstelle in St. Gallen, begegnet Esther Hilber immer wieder Menschen in sehr eingeschränkten finanziellen Verhältnissen. Wie sie aus ihrer Alltagspraxis weiss, ist Bildung einer der zentralen Ansatzpunkte für die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen in prekären Verhältnissen.
Die Wissensaneignung, allenfalls Weiterbildungen müssten ihrer Meinung nach früh beginnen. «Der haushälterische Umgang mit Geld sollte bereits in der Schule vermittelt werden», empfiehlt die Sozialarbeiterin. «Ich stelle fest, dass verschiedenen meiner Adressatinnen und Adressaten die Kompetenz einer Budgeterstellung fehlt.»
Die erfahrene Expertin ist überzeugt: «Mehr Wissen über den richtigen Umgang mit Geld, Informationen und die Eröffnung von Zugängen zu Hilfs- und Entlastungsangeboten würde die Situation mancher Betroffener erleichtern. Manchen Adressatinnen ist beispielweise nicht bekannt, dass sie den Antrag zur Prämienverbilligung im Kanton St. Gallen jeweils bis Ende März einreichen müssen.»
Mit der baldigen Überweisung des entsprechenden Betrags Anfang Jahr wird die Situation von Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen etwas entlastet. Zudem kennen gemäss Esther Hilber viele Eltern, mit zivilrechtlichem Wohnsitz im Kanton St.Gallen, die Elternschaftsbeiträge nicht. Eltern mit niedrigem Einkommen haben bei der Geburt eines Kindes Anspruch auf Elternschaftsbeiträge, wenn sich wenigstens ein Elternteil persönlich der Pflege und Erziehung des Kindes widmet und der Lebensbedarf nicht durch Einkommen gedeckt ist.
Anspruchsberechtigt ist der Elternteil, welcher das Kind hauptsächlich betreut. «Dies sind lediglich zwei Beispiele von Möglichkeiten, um die wirtschaftliche Situation von Menschen, mit tiefen Einkommen entspannen», betont die Sozialarbeiterin.
Aus Scham nicht aufs Sozialamt
Hilber verweist zudem darauf, dass es nutzbringend und förderlich sein könnte für Menschen in prekären Lebenssituationen, unabhängig von den Sozialämtern, Anlauf- und Informationsstellen zu installieren, beispielsweise in Familienzentren, damit sie unbürokratisch Informationen zu den bestehenden Entlastungs- und Unterstützungsangeboten erhalten.
«Viele Menschen wollen sich nicht an die Sozialämter wenden, sie wollen ihre Situation aus eigener Kraft meistern», sagt die Fachfrau. «Aus Scham oder aus Angst vor einer Zurückstufung der Aufenthaltsbewilligung verzichten sie auf Unterstützung, obwohl sie auf sie ein gesetzliches Anrecht hätten.»
(Bild: Archiv)
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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