Kündigungen, Führungswechsel, Verzweiflung: Die Konflikte in der Spitex St.Gallen erschweren die Suche nach fähigem Führungspersonal. Die Arbeitspsychologin Bärbel Kürzl weiss, was in Spitex-Firmen so alles aus dem Ruder laufen kann. Im Gespräch erklärt sie, woran Chefetage und Pflegende kranken.
Zwei Monate dauerte es, bis der Übergangsverwaltungsrat der Spitex St.Gallen AG die Zusammenarbeit mit der neuen Co-Geschäftsleitung beendet hat. Dies hat die Organisation im August bekanntgegeben
Die in das dreiköpfige Leitungsteam gesetzten Hoffnungen waren gross, dass in der St.Galler Spitex endlich Ruhe einkehren würde. Das Gegenteil ist der Fall: Auf allen Ebenen herrscht Instabilität und Verunsicherung
Arbeitspsychologin und Mediatorin Bärbel Kürzl, Dozentin für Konfliktmanagement und erfahrene Beraterin von Gesundheitsorganisationen, analysiert im Interview, was die Führung einer Spitex so herausfordernd macht
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Seit Jahren reissen die Hiobsbotschaften aus der Spitex St.Gallen AG nicht ab. Ihr Auftrag ist, sich um die Pflege Kranker ausserhalb der Spitäler zu kümmern. Ende Mai 2023 erst ist der gesamte Verwaltungsrat zurückgetreten. Seither leitet ein Gremium rund um die zuständige Stadträtin Sonja Lüthi die strategischen Geschicke der Spitex, wobei die Stadträtin als interimistische Verwaltungsratspräsidentin amtet.
Vor und nach dem Zusammenschluss von vier Spitex-Vereinen der Stadt zu einer Aktiengesellschaft im Jahr 2021 hatten Dutzende von Pflegekräften gekündigt, später folgte eine zweite Kündigungswelle. Der erste Geschäftsführer der neuen Organisation war bereits nach einem halben Jahr weg.
Die Arbeitspsychologin und Mediatorin Bärbel Kürzl kennt sich mit krisengeschüttelten Spitex-Organisationen aus. Die Dozentin für Konfliktmanagement an der Fachhochschule Nordwestschweiz weiss um die Nöte der Pflegenden und die Probleme ihrer Vorgesetzten.
Bärbel Kürzl, wie oft hören Sie von Krisen wie jene in der Spitex St.Gallen?
Bärbel Kürzl: In diesem Ausmass scheint St.Gallen eine Ausnahme zu sein. Was ich wahrnehme, ist eine unglaubliche Instabilität über alle Ebenen hinweg. Gleichzeitig erlebe ich, dass Spitex-Organisationen, die ich begleite, in ähnlichen Themen unterwegs sind.
Mit welchen Herausforderungen kämpfen solche Organisationen generell?
Was sich deutlich verändert hat, ist die Konkurrenz unter anderem durch private Pflegefirmen, die mit ganz anderen Angeboten im Markt auftreten können. Das setzt die Spitex-Organisationen wirtschaftlich enorm unter Druck. Wenn dann auch noch bessere Löhne gezahlt werden, wandern Mitarbeitende schneller ab, manchmal auch zurück an die Spitäler.
Werden Pflegekräfte an Spitälern so viel besser bezahlt?
Wegen des Fachkräftemangels gibt es verschiedene Spitäler, welche die Löhne hochgesetzt haben. Wenn man anderswo bis zu 300 Franken mehr pro Monat verdienen kann, überlegt man sich das schnell einmal.
Gibt es weitere Faktoren?
In vielen Pflegeorganisationen kommt hinzu, dass eine Professionalisierung der obersten Führungsebene notwendig wäre. Das veränderte Marktumfeld verlangt heutzutage ein grösseres Knowhow zur strategischen Unternehmensführung. Das fehlt heute oftmals.
Mit welchen Herausforderungen kämpfen die Spitex-Mitarbeitenden?
Häufig haben Pflegende den Fokus auf die Klientinnen und Klienten. Ihr Selbstverständnis ist: «Ich bin da, weil meine Berufung die Pflege ist.» Zugleich wenden sich Spitex-Organisationen gezwungenermassen zu einer höheren Wirtschaftlichkeit hin. Das steht oft im Widerspruch zum Herzblut der Mitarbeitenden. Viele erleben das als fehlende Wertschätzung und beklagen, dass nur noch das Geld im Mittelpunkt stehe. Dieser nötige Perspektivenwechsel fordert Pflegende immer wieder.
Wäre es nicht Aufgabe der Führung, dies aufzufangen?
Doch, absolut. Das ist für mich die nächste Frage. Wie gut findet sich die Führung darin zurecht und kann der Belegschaft bewusst machen: «Wenn wir hier nicht mitmachen, sind wir weg vom Markt, und dann gibt es uns irgendwann nicht mehr.» Ich erlebe Führungskräfte im Gesundheitswesen jedoch als eher harmoniebedürftig. Hinzustehen und klar zu sagen, was Sache ist, fällt vielen schwer. Damit legen sie sich aber ein Ei. Weil sie die Botschaft nicht klar genug rüberbringen und in der Folge auch keine Konsequenzen ziehen, wo sie notwendig wären.
Das hört sich nach klassischer Führungsstärke an, wie sie in jeder Organisation gefragt wäre…
Richtig. Was Gesundheitsorganisationen von manchen anderen Organisationen unterscheidet: eine sehr hohe Mitarbeiterzentriertheit. Was einerseits in so belastenden Jobs sehr wichtig ist. Andererseits wird inakzeptables Verhalten oft zu lange toleriert. Bei Fehlverhalten wird zu lange weggeschaut.
Was sehr frustrierend ist für jene, die mitziehen und sich bemühen…
Genau. Es führt zu einer Frustspirale bei jenen, die sich richtig verhalten, wenn jene, die sich nicht an die Regeln halten, keine Konsequenzen zu befürchten haben. Hier spielt auch der Fachkräftemangel rein. Zögerliche Vorgesetzte sagen: «Ich habe doch eh schon zu wenig Personal. Jetzt soll ich mich auch noch von jemandem trennen?» Diese fehlende Konsequenz ist aber schädlich für die Organisation. Ein Team beobachtet sehr wohl, was geahndet wird, und was nicht. Ist diese Dynamik einmal im Gang, ist sie kaum aufzuhalten.
In St.Gallen wurde diesbezüglich offensichtlich längst eine hohe Eskalationsstufe erreicht.
Ja, und typischerweise verlassen dann die guten Kräfte als erste den Schauplatz, weil sie woanders mit Handkuss eingestellt werden.
Wird für die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen gut genug geschaut? Müssten die Verantwortlichen mehr für sie tun?
Ich bin mir nicht sicher. Mein Eindruck ist bei Pflegenden oft, dass sie das Gefühl haben, nicht genug Wertschätzung zu erhalten. Wenn man ihnen aber aufzählt, welche Vorteile und Extras sie bereits bekommen, sind sie überrascht. Möglicherweise entsteht dies aus dem hochbelasteten Umfeld heraus, in dem sie tätig sind: Sie geben auch unglaublich viel. Eine Abteilungsleiterin sagte mir einmal, sie habe das Gefühl, ihr Team sei die Raupe Nimmersatt… Egal, wie sehr sie auf alle Wünsche der Mitarbeitenden eingehe, es sei nie genug.
Wie kann man das lösen?
Ich denke, ein Unternehmen, das seine Mitarbeitenden so weit wie möglich einbindet, schafft Vertrauen und Zugehörigkeitsgefühl. Form und Grad der Einbindung müssen aber klar geregelt sein. Führungskräfte müssen auch mal sagen, wann und wo sie selbst entscheiden wollen, und worüber nicht diskutiert wird. Das entlastet auch die Mitarbeitenden, weil sie darin Orientierung finden.
Das heisst, auch hier hilft klare Führung?
Ja, da dürfen Führungskräfte im Gesundheitswesen noch dazulernen.
Wer steigt denn in Gesundheitsorganisationen überhaupt auf?
Typischerweise kommen die leitenden Mitarbeitenden aus der Pflege. Glücklicherweise werden heute nicht mehr systematisch jene befördert, die am längsten da sind. Dabei helfen auch Assessments im Bewerbungsprozess. Heute braucht es betriebswirtschaftliche Fähigkeiten und eine gewisse Standfestigkeit. Und, spezifisch auf die Spitex bezogen, eine unglaubliche Fähigkeit, die schwankende Auftragslage in die Einsatzplanung einzubeziehen. Da ist viel Sensibilität für Fairness und Kollegialität gefragt.
Was läuft in Teams richtig, wo ein guter Teamgeist herrscht?
Ich beobachte, dass Teams, die in der Lage sind, Spannungen zu adressieren, besser funktionieren. So werden Belastungen besser aufgefangen. Wenn man miteinander, auch unter vier Augen, darüber redet. Dieser Dialog darf vor lauter Rentabilitätsstreben keinesfalls unter den Tisch fallen.
Wie sehr leiden die Pflegenden darunter, dass im heutigen erhöhten Tempo weniger Zeit bleibt, um sich den Klientinnen und Klienten auf persönlicher Ebene zu widmen?
Das ist immer wieder ein Thema und bleibt für viele schwierig. Für viele Pflegebedürftige ist der Besuch der Spitex-Mitarbeitenden der einzige Kontakt am Tag. Das kann dazu führen, dass sie Kaffee und Kuchen vorbereiten, und gleichzeitig wird der Pflegekraft vorgegeben, wie lange beispielsweise eine bestimmte Pflegeverrichtung dauern darf. Mit diesem Dilemma gut umgehen zu können, erzeugt Spannungsfelder, zumal typischerweise eine enge Beziehung zu den Klientinnen und Klienten besteht.
Die Spitex St.Gallen wird zurzeit auf strategischer und operativer Ebene interimistisch geführt. Wie wichtig schätzen Sie die regionale Verankerung einer künftigen Führungsriege ein?
Ich war selbst lang im Vorstand einer Genossenschaft, in dem wir dieselben Themen diskutierten. In meinen Augen braucht es ein sorgfältiges Abwägen zwischen nötiger Professionalität und regionaler Verankerung. Mitglieder eines Vorstands brauchen eine Vorstellung davon, wie eine Strategie zu entwickeln ist. Die Professionalisierung der Vorstände und Verwaltungsräte scheint mir deshalb zwingend. Regional verankert zu sein ist gut, aber vielleicht reicht es, wenn nur ein Teil dieses Gremiums diese Voraussetzung erfüllt und darüber hinaus das Gewicht auf die strategische Expertise gelegt wird – wobei es ja auch die Kombination aus beidem geben kann. Da stellt sich auch die Frage, wie diese Personen entschädigt werden.
Um fähige Leute zu gewinnen?
Genau. Man kann nicht erwarten, dass Herzblut allein heute noch reicht, um eine gesunde Organisation aufzubauen.
Müssten Sie den St.Galler Verantwortlichen einen Rat geben, wie lautete dieser?
Ich habe vor allem einen Ratschlag: In die Führung investieren.
Zur Person
Bärbel Kürzl ist Arbeitspsychologin, Mediatorin und Supervisorin mit Weiterbildungen unter anderem in Dynamic Facilitation und Soziokratie 3.0. Sie hat langjährige Erfahrung als interne Projektleiterin und Beraterin in unterschiedlichen Branchen, ist Dozentin an der Fachhochschule Nordwestschweiz und mag laut eigenen Angaben herausfordernde Klärungssituationen. Bärbel Kürzl begleitet mit ihrer Firma Punktgenau-beraten mit Sitz in Otelfingen Organisationen in Veränderungs- und Teamentwicklungsprozessen, in Konfliktmoderationen und im Coaching.
Mehr Informationen: www.punktgenau-beraten.ch
Bildmontage: PD/DepositphotosOdilia Hiller aus St.Gallen war von August 2023 bis Juli 2024 Co-Chefredaktorin von «Die Ostschweiz». Frühere berufliche Stationen: St.Galler Tagblatt, NZZ, Universität St.Gallen.
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