Man kann es drehen und wenden wie man will. Die Attraktivität eines Einkaufsortes steht und fällt mit der unmittelbaren Erreichbarkeit mit dem eigenen Auto. Eine Tatsache, an der auch die Milliardeninvestitionen in den öffentlichen Verkehr nichts verändert haben.
Dies gelesen: «Im Westen der Stadt St.Gallen herrschte ein veritables Verkehrschaos. Die Polizei musste sogar eine Strasse sperren, weil Shopper auf Parkplatzsuche die Strasse verstopften.» (Quelle: www.fm1today.ch, 13.3.2021)
Das gedacht: Für einmal sei etwas Nostalgie erlaubt. Blicken wir zurück, auf die frühen neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Innenstadt von St.Gallen war das unbestrittene überregionale Wirtschaftszentrum. Der Einzelhandel blühte. Thurgauer, Rheintaler und Appenzeller trafen sich in der St.Galler Altstadt. Während dem Abendverkauf gab es kaum ein Durchkommen in den Gassen. Für alle war klar. Wer etwas erleben wollte, ging in die Stadt.
Ein Gedränge gab es nicht nur in den Ladengeschäften und in den Gastronomiebetrieben. Zu den Haupteinkaufszeiten stauten sich die Autos auf den Strassen, viele auf der Suche nach einem Parkplatz. Und dies in einem politischen Umfeld, in dem Katastrophenmeldungen über das unmittelbar bevorstehende Waldsterben die politische Agenda diktierten.
Die Politik reagierte. Nun ging es darum, den autofahrenden Pendlern und Kundinnen das Leben möglichst schwer zu machen. Mit künstlich erzeugten Stausituationen, der Reduktion von Strassenparkplätzen und hohen Parkplatzgebühren im Stadtzentrum.
Die Folgen dieser Politik sind bekannt und widerspiegeln sich im Verkehrschaos im Westen der Stadt.
In der Agglomeration schossen Fachmärkte und Einkaufszentren wie Pilze aus dem Boden. Alle bestens mit Parkplätzen ausgestattet.
Im Stadtzentrum dagegen setzte der Niedergang des Einzelhandels ein. Heute stehen im grossen Stil Ladenflächen leer. Nun werden mir die zahllosen Detailhandelsexperten in der Politik und in unseren Behörden entgegenhalten, dass dies alles nichts mit Verkehrspolitik zu hat. Entscheidend sei vielmehr der gesellschaftliche Wandel, der Online-Handel und der Einkaufstourismus. Dabei wird jedoch übersehen, dass auch die Anbieter auf der grünen Wiese mit diesen Herausforderungen zu kämpfen haben. Der ganz grosse Unterschied zwischen der Innenstadt und den Einkaufzentren liegt in der Erreichbarkeit mit dem privaten Motorfahrzeug.
Und dieser Unterschied ist entscheidend. Um dies zu verstehen, genügt ein Blick in die Verkehrsstatistik des Bundes. Die individuelle Mobilität ist unverändert hoch. Die Wahl des Verkehrsmittels ist jedoch je nach Zweck unterschiedlich. Beim Arbeitsweg kommt dem öffentlichen Verkehr eine vergleichsweise hohe Bedeutung zu. Die meisten Einkaufsetappen hingegen werden zu Fuss (44%) oder mit dem Auto (40%) unternommen. Distanzmässig dominiert das Auto mit einem Anteil von beinahe drei Vierteln (74%). Die Eisenbahn dagegen kommt auf einen Anteil von lediglich 13%. Vergleichbares gilt für den Freizeitverkehr.
Man kann es drehen und wenden wie man will. Die Attraktivität eines Einkaufsortes steht und fällt mit der unmittelbaren Erreichbarkeit mit dem eigenen Auto. Eine Tatsache, an der auch die Milliardeninvestitionen in den öffentlichen Verkehr nichts verändert haben. Die Kundinnen und Kunden des Einzelhandels sind umgestiegen. Allerdings nicht vom eigenen Auto auf den öffentlichen Verkehr, sondern vom Stadtzentrum in die Einkaufszentren und Fachmärkte auf der grünen Wiese.
Nun versteht sich aber von selbst, dass die Einwohnerinnen und Einwohner und nicht die Pendlerinnen und auch nicht die auswärtigen Kunden des Einzelhandels über die Zukunft der Stadt St.Gallen entscheiden. So sind nun mal die Spielregeln. Dies gilt auch für den umverkehrten Traum einer verkehrsarmen, grünen Stadtoase, bevölkert von entspannten Fussgängern und glücklichen Velofahrern, mit Begegnungszonen auf Hauptverkehrsachsen und befreit von Pendlern und Kundinnen, die sich nicht an die von der Stadt vorgegebenen, moralisch überlegenen Verhaltensnormen halten wollen. Dies ganz im Sinne des Mobilitätskonzepts 2040 der Stadt St.Gallen: «Umweltgerechtes Verhalten ist (…) nicht nur von der ansässigen Bevölkerung einzufordern, sondern auch von den Pendlerinnen und Pendlern aus der Region.» Umerziehung als Leitmotiv.
Allerdings, wer diesen Traum träumt, muss gleichzeitig den Bedeutungsverlust der Stadt St.Gallen als überregionales Geschäftszentrum akzeptieren. Auch den St.Galler Bär kann man nicht waschen, ohne das Fell nass zu machen.
(Bild: Kurt Weigelt)
Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.
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