Marisa Wunderlin ist Fan. Fan von «Ted Lasso». Die Netflixserie zeigt die Geschichte eines amerikanischen Football-Trainers, der ohne Fussball-Kenntnisse eine Mannschaft der englischen Premier League übernimmt. Seine Stärke liegt im feinen Gespür für Menschen. «Darum geht es doch», sagt Wunderlin.
Wie Ted Lasso setzt auch die Trainerin der Frauenequipe des FC St. Gallen das Zwischenmenschliche ins Zentrum ihrer Arbeit. Doch anders als Lasso kennt die ehemalige Spielerin und Besitzerin einer UEFA-Trainerlizenz den Fussball in all seinen Dimensionen. In den letzten drei Jahren hat sie es geschafft, das Frauenteam sowohl in den Cupfinal zu führen als auch in der oberen Tabellenhälfte zu etablieren – und das mit einem vergleichsweise geringen Budget. Aus wenig das Maximum herausholen, das gilt bei Grün-Weiss sowohl für die Männer wie auch die Frauen. Der Erfolg lässt sich in der fussballverrückten Ostschweiz nicht kaufen. «Umso wichtiger sind die Werte im Verein», sagt Marisa Wunderlin.
Bei Cordon bleu und Pommes sitzt sie im Kybunpark und erzählt von ihrer Philosophie: «Technik und Taktik sind wichtig, aber entscheidend ist die Kultur in der Mannschaft.» In diese Kultur investiert die 36-jährige Wunderlin ihr Herzblut. Sie packt ihren Laptop aus dem Rucksack in Vereinsfarben und zeigt in einer Präsentation, wovon sie spricht. «Leader gestalten eine Kultur – Kultur führt zu Verhalten – Verhalten führt zu Resultaten», steht da geschrieben. In der Mitte das Bild eines grünen Triebs, der nach oben wächst. Wachsen und sich weiterentwickeln, das sei ihr Ziel für die Spielerinnen, den Staff und natürlich auch sich selbst. «Ich kann den Erfolg meiner Arbeit nicht nur von Siegen und Niederlagen abhängig machen», sagt Wunderlin.
Dafür sei der Sport zu unberechenbar. Sie vertraue einfach auf den Prozess. «Ich glaube fest daran, dass wir auf dem richtigen Weg sind.» «Trust the process», schreibt sie jeweils unter ihre Postings bei Instagram. Dieses Vertrauen musste sie erst lernen. Als sie als Trainerin der 1. Frauenequipe der Berner Young Boys zwölf Spiele in Folge verlor, kamen Zweifel auf. «Ich begann, alles zu hinterfragen, auch mich als Person.» Also begann Wunderlin, ihre Methoden zu ändern, Hektik machte sich breit. Das würde ihr heute nicht mehr passieren, sagt sie. «Auch ich befinde mich in einem ständigen Entwicklungsprozess.»
Ihre Art, über den Fussball nachzudenken, hat sie zu einer gefragten Interviewpartnerin gemacht. «Es geht dabei nie um mich und mein Ego. Ich brenne dafür, nachkommenden Generationen von Mädchen den Weg zu ebnen, diesen Sport professionell ausüben zu können.» Diese Mission sei für sie und ihr Team grösser und wichtiger als der einzelne Sieg am Wochenende. Beim FC St. Gallen finde sie die passenden Rahmenbedingungen dafür. Sie spricht vom gegenseitigen Respekt im Club, von der Durchlässigkeit zwischen Frauen- und Herrenmannschaft und von der Unterstützung durch den Verwaltungsrat, der mithelfe, die Strukturen rund um den Frauenfussball zu verbessern.
Der erste nationale Frauen-Wettbewerb in der Schweiz startete 1970 mit 18 Teams und 270 Spielerinnen. Mittlerweile gibt es über 41 000 lizenzierte Fussballerinnen. Mehr als 440 Vereine führen Frauenteams. Es ist viel passiert in den letzten Jahren. Doch noch immer trennen Welten die Super League von der Women’s Super League. «Unsere Frauen investieren viel Zeit in die grosse Leidenschaft Fussball.» Für Wunderlin endet darum der Trainerjob auch nicht am Spielfeldrand. So unterstützt sie auch einmal eine Spielerin, wenn diese bei ihrem Arbeitgeber oder ihrer Universität um Verständnis bitten muss, rechtzeitig ins Training gehen zu dürfen.
«Ich begann, alles zu hinterfragen, auch mich als Person.»
Würde es Marisa Wunderlin reizen, dereinst Peter Zeidler zu beerben und Zigi, Görtler und Co. zu trainieren? Reizvoll sei diese Herausforderung auf jeden Fall, antwortet sie, ohne zu zögern, lässt sogleich ein Aber folgen: «Meine Passion für den Frauenfussball geht weit über das Spiel auf dem Rasen hinaus. Darum bin ich momentan am richtigen Ort.» Warum es noch keine Frau als Trainerin eines Herrenteams in der obersten Liga gebe, habe viele Gründe. Sie finde es spannend, mit Frauen zu arbeiten, weil diese in Entscheidungen involviert werden möchten. «Sie wollen das Warum beim Training verstehen und jeden Tag besser werden.» Beim Fussball der Männer würden andere Prinzipien im Vordergrund stehen. «Da musst du als Trainer oder Trainerin erst mal deine Kompetenz und Stärke beweisen, sonst hören sie dir gar nicht zu.» Auch hier verweist Wunderlin auf die Kultur im Verein. So würde sie es gerade einem Club wie St. Gallen oder dem SC Freiburg zutrauen, eine Frau an der Seitenlinie zu präsentieren. «In diesen Vereinen geht es eben um mehr als bloss das Resultat am Wochenende. Hier kann langfristig etwas entstehen.»
Wie lange Marisa Wunderlin dem FC St. Gallen erhalten bleibt, ist ungewiss. So hat ihr Name bei der Besetzung des Trainerpostens der Schweizer Frauennationalmannschaft im vergangenen Winter die Runde gemacht. «Ich liebe Herausforderungen», sagt Wunderlin. «Aber die habe ich momentan beim FC St. Gallen und bin sehr glücklich damit.» Sagt sie und braust mit dem Velo los in Richtung Training. Auf dem Laptop hat sie Szenen aus dem letzten Spiel vorbereitet. So kann sie gemeinsam mit den Spielerinnen mögliche Verbesserungen in der Positionierung und Bewegung auf dem Platz besprechen.
In einem Punkt sind sich Ted Lasso und die Trainerin einig: Die richtige Einstellung und das Miteinander der Gruppe sind mindestens so wichtig wie das technische Geschick mit den Füssen. Und dann kommen irgendwann auch die Tore und die Siege. «Trust the process» – das Credo von Marisa Wunderlin.
Zur Person
Marisa Wunderlin (36) steht dem FC St. Gallen nahe, seit sie 1999 die Schweizer Schulmeisterschaft gewann und als Preis ein Saisonabo für das Espenmoos erhielt. Sie wuchs in St. Gallen-St. Georgen auf, studierte in Bern Sportwissenschaft und spielte aktiv in der Nationalliga A. Zu ihren Stationen als Trainerin gehören der FC Zürich, Olympique Lyonnais, die Schweizer Frauennationalmannschaft und die Berner Young Boys. Wunderlin verfügt über die UEFA-Pro-Lizenz, die höchste Ausbildung, die professionelle Trainerinnen und Trainer erwerben können.
(Bild: pd)
Martin Oswald ist Leiter Regionalmedien und Mitglied der Geschäftsleitung bei Galledia sowie Verlagsleiter bei der Ostschweizer Medien AG.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.