logo

Halbzeitbilanz

«Wir sind nicht schlecht unterwegs – könnten’s aber besser»

Ostschweizer National- und Ständeräte ziehen Halbzeitbilanz und schätzen die aktuelle Lage ein. Heute: GLP-Nationalrat Thomas Brunner (*1960). Beelendend fand er den verbreitet zu beobachtende Rückfall in nationalistische Reflexe aus dunkler Vergangenheit.

Marcel Baumgartner am 29. Juni 2021

Wir haben bewegte Zeiten hinter uns. Wie hat sich das Schweizer Politsystem als Gesamtes in dieser aussergewöhnlichen Lage geschlagen bzw. bewährt?

Nicht durchgehend ideal, insgesamt aber respektabel. So verzichteten wir im Unterschied zu all unseren Nachbarn richtigerweise auf Ausgangssperren (‘Lockdown’). Sich zu Beginn einer neuartigen Problematik an Hypothesen zu orientieren ist normal, auch wenn z.B. die unterschätzte Bedeutung von Kleinstpartikeln in Innenräumen früh absehbar war. Mindestens in einer zweiten Phase bemühte man sich auch in sensiblen Bereichen wie Bildung und Grenzräume um pragmatisches Abwägen.

Und welches Zeugnis stellen Sie dem Bundesrat aus?

In verschiedenen Phasen haben sich Verwaltung und Regierung unterschiedlich geschlagen:

a) Bis und mit 2019 war das Pandemie-Risiko an sich bekannt, ebenso die erforderliche Prävention. Allerdings wurde dies ungenügend umgesetzt – was ebenfalls bekannt war. Expertenseitig gab es räumlich-zeitlich erstaunlich präzise Vorwarnungen, doch diese Chance blieb ungenutzt.

b) Erst als die Situation nach dem vermeintlich fernen Asien auch grenznah eskalierte reagierte der Bundesrat. Also im allerletzten Moment dafür energisch genug, um die erste Infektionswelle auf ein bewältigbares Ausmass zu begrenzen. Obwohl sich die damalige Lage z.B. an verschiedenen Landesgrenzen klar unterschied, blieben die Notmassnahmen lange undifferenziert.

c) Nach dem auch dank Witterungsgunst erreichten Rückgang der Infektionszahlen erlebten wir einen von Wunschdenken geprägten Sommer. Rasch wurden dabei die Schwächen föderaler Zuständigkeiten in der Bekämpfung einer globalen Problemstellung offensichtlich.

d) Als wenig risikobewusstes Verhalten sich mit herbstlich sinkenden Temperaturen in geschlossene Räume verlagerten, nahm die Landesregierung das Heft zu spät wieder in ihre Hand. Deshalb erreichte die 2. Infektionswelle unnötige Ausmasse und die Notwendigkeit einschneidender Gegenmassnahmen zog sich in die Länge.

e) Zumal der Ausstieg ‘à la criée’ nach der ersten Welle sich nicht wirklich bewährt hatte, zeigte der Bundesrat Lernbereitschaft: Derzeit baut er die Einschränkungen mit kalkuliertem Risikomanagement parallel zur steigenden Verfügbarkeit von Impfstoff stufenweise zurück.

Welcher Aspekte, welches Ereignis war für Sie in der gesamten Corona-Situation wie ein Schlag in die Magengrube?

Beelendend fand ich den verbreitet zu beobachtende Rückfall in nationalistische Reflexe aus dunkler Vergangenheit. Vor kurzem noch hätte ich es nicht für möglich gehalten, wie in unserer nicht nur wirtschaftlich eng verflochtenen Bodenseeregion Familien und Paare monatelang von Behörden daran gehindert wurden, sich gegenseitig beizustehen.

Was bleibt für Sie hingegen äusserst positiv in Erinnerung?

Beeindruckt hat mich die generationenübergreifende Solidarität zu Beginn der ersten Welle, als sich z.B. Jugendliche spontan organisierten und ihren betagten Nachbarn Einkaufshilfe anboten. Aber auch das Stehvermögen einer grossen Bevölkerungsmehrheit, die sich von lauten Minderheiten nicht provozieren liess, als fast jedermann die Nase längst voll hatte vom distanzierten ‘Maskenball’.

Woran sollten sich die Wählerinnen und Wähler im grossen Wahljahr 2023 unbedingt zurückerinnern, bevor sie die Wahlzettel ausfüllen?

Nach kurzzeitigem Zusammenstehen quer durch die Parteien zeigte sich rasch, welche Kräfte primär lautstarke Forderungen von Partikularinteressen wiederholen. Aber auch wer besonnenes, fakten- und lösungsorientiertes Vorgehen stützt. Denn selbst wo Unzufriedenheit durchaus nachvollziehbar ist, bringt billige Ablehnung von allem und jedem keinen Fortschritt.

Welche Bereiche, in denen dringend Handlungsbedarf besteht, gerieten durch die Corona-Diskussionen eher in den Hintergrund?

Wieder hat sich gezeigt, dass unser Land auf akute Herausforderungen wie die Gefährdung des Gesundheitssystems vielleicht langsam, aber dank enormer Ressourcen ausreichend zu reagieren vermag. Hingegen fehlt die Bereitschaft sich längerfristigen Herausforderungen wie derjenigen des forcierten Klimawandels ähnlich konsequent zu stellen. Anscheinend mangelt es an Risikokultur - dem Bewusstsein, dass in einer sich ändernden Welt keine absolute Sicherheit existiert. Jedoch liessen sich die Wahrscheinlichkeiten von Chancen und Risiken durchaus beeinflussen - so man sich den Herausforderungen vorausschauend stellt.

Ihre abschliessende Bilanz?

Zusammenfassend ist mein Eindruck, dass wir mit dieser seit etlichen Generationen ersten epidemiologischen Herausforderung besser umzugehen verstanden als es bei schleichenden Gefährdungen der Fall ist. Spannend wird nun sein zu sehen, ob und was wir aus diesen besonderen Erfahrungen lernen. Oder kehren wir lediglich rasch möglichst zum vorher Vertrauten zurück?

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.