Ostschweizer National- und Ständeräte ziehen Halbzeitbilanz und schätzen die aktuelle Lage ein. Heute: GLP-Nationalrat Thomas Brunner (*1960). Beelendend fand er den verbreitet zu beobachtende Rückfall in nationalistische Reflexe aus dunkler Vergangenheit.
Wir haben bewegte Zeiten hinter uns. Wie hat sich das Schweizer Politsystem als Gesamtes in dieser aussergewöhnlichen Lage geschlagen bzw. bewährt?
Nicht durchgehend ideal, insgesamt aber respektabel. So verzichteten wir im Unterschied zu all unseren Nachbarn richtigerweise auf Ausgangssperren (‘Lockdown’). Sich zu Beginn einer neuartigen Problematik an Hypothesen zu orientieren ist normal, auch wenn z.B. die unterschätzte Bedeutung von Kleinstpartikeln in Innenräumen früh absehbar war. Mindestens in einer zweiten Phase bemühte man sich auch in sensiblen Bereichen wie Bildung und Grenzräume um pragmatisches Abwägen.
Und welches Zeugnis stellen Sie dem Bundesrat aus?
In verschiedenen Phasen haben sich Verwaltung und Regierung unterschiedlich geschlagen:
a) Bis und mit 2019 war das Pandemie-Risiko an sich bekannt, ebenso die erforderliche Prävention. Allerdings wurde dies ungenügend umgesetzt – was ebenfalls bekannt war. Expertenseitig gab es räumlich-zeitlich erstaunlich präzise Vorwarnungen, doch diese Chance blieb ungenutzt.
b) Erst als die Situation nach dem vermeintlich fernen Asien auch grenznah eskalierte reagierte der Bundesrat. Also im allerletzten Moment dafür energisch genug, um die erste Infektionswelle auf ein bewältigbares Ausmass zu begrenzen. Obwohl sich die damalige Lage z.B. an verschiedenen Landesgrenzen klar unterschied, blieben die Notmassnahmen lange undifferenziert.
c) Nach dem auch dank Witterungsgunst erreichten Rückgang der Infektionszahlen erlebten wir einen von Wunschdenken geprägten Sommer. Rasch wurden dabei die Schwächen föderaler Zuständigkeiten in der Bekämpfung einer globalen Problemstellung offensichtlich.
d) Als wenig risikobewusstes Verhalten sich mit herbstlich sinkenden Temperaturen in geschlossene Räume verlagerten, nahm die Landesregierung das Heft zu spät wieder in ihre Hand. Deshalb erreichte die 2. Infektionswelle unnötige Ausmasse und die Notwendigkeit einschneidender Gegenmassnahmen zog sich in die Länge.
e) Zumal der Ausstieg ‘à la criée’ nach der ersten Welle sich nicht wirklich bewährt hatte, zeigte der Bundesrat Lernbereitschaft: Derzeit baut er die Einschränkungen mit kalkuliertem Risikomanagement parallel zur steigenden Verfügbarkeit von Impfstoff stufenweise zurück.
Welcher Aspekte, welches Ereignis war für Sie in der gesamten Corona-Situation wie ein Schlag in die Magengrube?
Beelendend fand ich den verbreitet zu beobachtende Rückfall in nationalistische Reflexe aus dunkler Vergangenheit. Vor kurzem noch hätte ich es nicht für möglich gehalten, wie in unserer nicht nur wirtschaftlich eng verflochtenen Bodenseeregion Familien und Paare monatelang von Behörden daran gehindert wurden, sich gegenseitig beizustehen.
Was bleibt für Sie hingegen äusserst positiv in Erinnerung?
Beeindruckt hat mich die generationenübergreifende Solidarität zu Beginn der ersten Welle, als sich z.B. Jugendliche spontan organisierten und ihren betagten Nachbarn Einkaufshilfe anboten. Aber auch das Stehvermögen einer grossen Bevölkerungsmehrheit, die sich von lauten Minderheiten nicht provozieren liess, als fast jedermann die Nase längst voll hatte vom distanzierten ‘Maskenball’.
Woran sollten sich die Wählerinnen und Wähler im grossen Wahljahr 2023 unbedingt zurückerinnern, bevor sie die Wahlzettel ausfüllen?
Nach kurzzeitigem Zusammenstehen quer durch die Parteien zeigte sich rasch, welche Kräfte primär lautstarke Forderungen von Partikularinteressen wiederholen. Aber auch wer besonnenes, fakten- und lösungsorientiertes Vorgehen stützt. Denn selbst wo Unzufriedenheit durchaus nachvollziehbar ist, bringt billige Ablehnung von allem und jedem keinen Fortschritt.
Welche Bereiche, in denen dringend Handlungsbedarf besteht, gerieten durch die Corona-Diskussionen eher in den Hintergrund?
Wieder hat sich gezeigt, dass unser Land auf akute Herausforderungen wie die Gefährdung des Gesundheitssystems vielleicht langsam, aber dank enormer Ressourcen ausreichend zu reagieren vermag. Hingegen fehlt die Bereitschaft sich längerfristigen Herausforderungen wie derjenigen des forcierten Klimawandels ähnlich konsequent zu stellen. Anscheinend mangelt es an Risikokultur - dem Bewusstsein, dass in einer sich ändernden Welt keine absolute Sicherheit existiert. Jedoch liessen sich die Wahrscheinlichkeiten von Chancen und Risiken durchaus beeinflussen - so man sich den Herausforderungen vorausschauend stellt.
Ihre abschliessende Bilanz?
Zusammenfassend ist mein Eindruck, dass wir mit dieser seit etlichen Generationen ersten epidemiologischen Herausforderung besser umzugehen verstanden als es bei schleichenden Gefährdungen der Fall ist. Spannend wird nun sein zu sehen, ob und was wir aus diesen besonderen Erfahrungen lernen. Oder kehren wir lediglich rasch möglichst zum vorher Vertrauten zurück?
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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