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Landsgemeinde

«Wo kommen wir denn hin?»

Adriana Hörler sorgte in Innerrhoden für Aufregung. Im Gespräch über Motive und negative Konsequenzen.

Stefan Millius am 03. Mai 2018

Adriana Hörler, zu welchem Zeitpunkt Ist Ihnen erstmals aufgefallen, dass die Verhandlungsführung durch die Standeskommission beziehungsweise den Landammann nicht dem entspricht, was Sie für richtig halten?

Eigentlich war dies der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam, als ich die Informationsbroschüre gesehen habe. Nach deren Lektüre wollte ich dem nachgehen und habe in Lehrmitteln nach Antworten gesucht und auch gefunden. Uns wird an der Uni gelehrt, dass Behörden neutral auftreten müssen, und das habe ich in Frage gestellt. Als dann noch ein amtlich publizierter Zeitungsartikel gegen den Rückweisungsantrag im Volksfreund erschien, stand bei mir fest, dass ich etwas gegen diese Informationspolitik unternehmen wollte.

Das haben Sie an der Landsgemeinde auf dem Stuhl dann auch getan. War die Wortmeldung so geplant oder hat das Verhalten des Landammanns spontan zum Votum geführt?

An der Landsgemeinde selber beziehungsweise in meinem Votum habe ich den Landammann nicht explizit angegriffen. Die Kritik in meiner Rede bezog sich lediglich auf das Verhalten der Standeskommission vor der Landsgemeinde. Dass der Herr Landammann während der Landsgemeinde nur gegen kritische Voten etwas zu äussern beziehungsweise richtigzustellen hatte, verlieh meinem Votum noch mehr Kraft, Anhörung und Plausibilität.

Die Landsgemeinde bricht ja auf vielen Ebenen mit dem, was sich die meisten Schweizerinnen und Schweizern unter Wahlen und Abstimmungen vorstellen. Könnte man nicht auch einfach sagen: Die Landsgemeinde hat ihre eigenen Gesetze, und dazu gehört auch das kritisierte Verhalten?

Dass die Landsgemeinde etwas heutzutage Aussergewöhnliches ist, ist unbestritten. Aber ich denke nicht, dass sie deswegen nach eigenen Regeln ablaufen soll und sich über schweizweite Grundsätze der Demokratie hinwegsetzen kann. Genau so geht die Demokratie verloren. Wohin kommen wir denn, wenn wir immer nur so abstimmen, wie es die Standeskommission es sich wünscht? Dann müsste ja die Landsgemeinde gar nicht mehr durchgeführt werden.

Es gab in den Tagen danach viele Stimmen, die Ihre Kritik aufgenommen haben. Glauben Sie, dass das ohnehin passiert wäre oder haben Sie da gewissermassen die Dämme eingerissen?

Ich glaube, das viele Bürger zumindest unterbewusst das dachten, was ich dann im meinem Votum gesagt habe. Es hat sie zum Nachdenken animiert und fand offensichtlich viel Anklang, der sich dann in der Kritik an der Verhandlungsführung wiederspiegelte. In dem Sinne denke ich schon, dass ich da etwas in Bewegung gesetzt habe.

Offene Kritik an den Regierenden hat in Innerrhoden nach wie vor eher Seltenheitswert, früher war sie unter einzelnen starken Figuren an der Spitze praktisch inexistent. Ist sie mittlerweile aber eher möglich als früher? Stellen Sie da einen Kulturwandel fest?

Ich denke, das hat mit dem vom Herrn Landamman angesprochenen Vertrauen der Bürger in ihn und die Regierung zu tun. Daniel Fässler hat recht, ein gewisses Vertrauen muss da sein. Das heisst aber nicht, dass man dieses Vertrauen bedingungslos geben muss und dieses nicht hinterfragen darf. Daran direkt einen Kulturwandel festzustellen, scheint mir noch etwas zu weit hergeholt. Wenn ich mit meinem Handeln nur schon einen kleinen Stein ins Rollen gebracht und andere junge Leute dazu animiert habe, sich für etwas einzusetzen, das einem wichtig erscheint, ist mir das allemal genug.

Sie haben festgestellt, dass es Überwindung braucht, auf dem Stuhl zu sprechen. Das ist aber nur das eine. Eine andere mögliche Auswirkung wäre ja auch, dass Sie nun von einzelnen Kreisen geschnitten werden. Haben Sie sich diese Überlegungen nicht gemacht oder waren Sie der Ansicht, dass es dieses «Opfer» nun einfach braucht?

Ich denke nicht, dass man meinen Auftritt als Opfer bezeichnen kann, und ich mache das sicher nicht. Wenn einzelne Kreise mich nach meiner Tat ausschliessen möchten, dürfen sie das gerne tun. Ich stehe hinter dem, was ich gesagt habe und wenn dies die Konsequenz ist, dann soll es so sein. Ich kann damit leben.

Die ersten offiziellen Reaktionen aus der Ratskanzlei klingen nicht danach, als würde Ihre Kritik dort als gerechtfertigt angesehen, man will sich aber dennoch damit auseinandersetzen. Haben Sie vor diesem Hintergrund überhaupt die Hoffnung, dass diese Untersuchung ernsthaft erfolgt und sich etwas bewegen könnte?

Ich hoffe sehr, dass mein Anliegen ernsthaft diskutiert und untersucht wird, nicht nur meinetwegen, sondern eben auch dem Volke zuliebe. Ja, dies ist natürlich mit Aufwand seitens der Regierung verbunden, aber dieser ist meiner Meinung nötig im Hinblick auf das Wohlwollen und das Vertrauen der Bürger in die Regierung.

Da und dort hat man aus Ihrem Engagement bereits politische Ambitionen abgeleitet. Hat das was, zumindest indirekt? Oder anders gefragt: Könnten Sie sich später ein politisches Amt vorstellen?

Ein politisches Amt will ich nicht ausschliessen, zumal ich mich schon sehr dafür interessiere. Ich will zuerst aber einmal mein Jusstudium abschliessen und schaue dann weiter. Alles zu seiner Zeit.

Zur Person

Adriana Hörler (21) studiert in Bern im vierten Semester Jus. Sie sorgte mit einem kritischen Votum zur Versammlungsführung an der diesjährigen Landsgemeinde in Appenzell Innerrhoden für Aufmerksamkeit.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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