Die ausserordentliche Session zum Thema «Asylpraxis im Bezug auf Afghanistan» war eine kurze Angelegenheit: In beiden eidgenössischen Räten wurde ein Ordnungsantrag angenommen, der die Zuweisung zweier fast gleichlautender Motionen an die jeweils zuständige Kommission verlangte.
Am 17. Juli 2023 änderte das Staatssekretariat für Migration (SEM) seine Praxis: Frauen aus Afghanistan soll aufgrund der dortigen Unterdrückung der Frauen der Asylstatus automatisch zuerkannt werden. Diese löste bei Hilfswerken Jubelschreie, anderswo hingegen Besorgnis aus.
Die Besorgnis war dabei nicht allein, dass es durch die Änderung der Praxis zu einem starken Anstieg der Asylgesuche von Afghaninnen kommen könnte. Sondern dass, weil anerkannte Flüchtlinge in der Regel ihre Familienangehörigen nachziehen können, dadurch ganze afghanische Familien einwandern.
Aus diesem Grund wurde im National- und Ständerat jeweils eine Motion eingereicht, welche verlangt, dass die neue Praxis des SEM rückgängig gemacht wird. Das entscheidende Kriterium für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft soll das Herkunftsland und nicht mehr die Staatsangehörigkeit sein.
Millionen Afghanen in Drittländern
Aufgrund der jahrzehntelangen politischen Instabilität Afghanistans leben bereits heute Millionen afghanischer Flüchtlinge in anderen Ländern: Iran, Pakistan, Türkei undsoweiter. Diese bilden ein «Reservoir» von Bräuten, welche Afghanen, die hierzulande im Asylprozess stecken, in die Schweiz kommen lassen und ehelichen könnten, um so selber mittels Heirat und dem damit verbundenen Familiennachzug zu einer Aufenthaltsbewilligung zu kommen.
Liebesheiraten zwischen Afghanen sind dabei nicht der Regelfall. Noch heute herrschen arrangierte Ehen vor. Dass die durch die Eheschliessung verschaffte Ermöglichung des Familiennachzugs nicht immer die Freiheit der Frauen erhöht, kennt man auch von anderen Ethnien hierzulande. Da muss halt schon mal der Cousin im alten Heimatland geheiratet werden — Liebe hin oder her.
Hilfswerke sind empört
Wie erwartet zeigten sich die Hilfswerke empört darüber, dass die automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Parlament in Frage gestellt wird. So schreibt das Schweizerische Arbeiterhilfswerk SAH: «Es ist unbestritten, dass Frauen und Mädchen in Afghanistan aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden.»
Bloss «diskriminiert» zu sein, ist allerdings noch kein Asylgrund. Damit einhergehen muss auch eine Bedrohung an Leib und Leben. Verräterisch ist auch der Wortlaut dieses Protests: Da wird von «Frauen und Mädchen in Afghanistan» gesprochen.
Genau darum geht es aber in den Motionen nicht: Sondern um Frauen afghanischer Nationalität, welche eben nicht in Afghanistan leben. Ist das SAH der Ansicht, dass auch diese Frauen diskriminiert werden, dann ist offensichtlich nicht der Staat daran schuld, denn diese Frauen leben ja gar nicht unter dem afghanischen Taliban-Regime. Vielmehr läge die Diskriminierung in diesem Fall eindeutig in der afghanischen Kultur begründet, welche die Flüchtlinge mit sich in fremde Länder bringen.
Absurde Konsequenzen
Eine wie auch immer geartete Kultur ist aber kein Asylgrund. Zu welchen abstrusen Ergebnissen es führen würde, wenn man sie — gänzlich unabhängig vom Herkunftsland und der dort geltenden Rechtsordnung — dennoch zu einem solchen machen würde, zeigt folgendes Beispiel: Eine jungen Migrantin in der Schweiz wird von ihrer Familie gezwungen, einen Mann aus ihrem Heimatland zu heiraten, den sie nicht liebt. Ein Fall, wie er hierzulande durchaus vorkommt.
Hat diese junge Frau dadurch das Recht, deswegen Asyl in Deutschland zu beantragen, weil sie in der Schweiz als Opfer einer Zwangsheirat «diskriminiert» wird? Unbestritten nicht — weil sie zwar in der Schweiz (von ihren eigenen Familienangehörigen), aber nicht von der Schweiz diskriminiert wird. Schliesslich ist Zwangsheirat hierzulande verboten — kommt aber dennoch vor, genauso wie auch andere Straftaten vorkommen. Individuelle Verstösse gegen die geltende Rechtsordnung sind aber kein Asylgrund, selbst dann nicht, wenn sie gehäuft auftreten.
Patriarchale Kultur ist kein Asylgrund
Eine patriarchale Kultur, welche Frauen diskriminiert, ist somit für sich alleine noch kein Asylgrund — sondern wird erst zu einem, wenn sie auch die Gesetzgebung im Land bestimmt. Deshalb macht es Sinn, im Asylverfahren auf das tatsächliche Herkunftsland und die dort herrschende Rechtsordnung und politische Kultur abzustellen — und nicht auf die Verhältnisse in einem imaginären Heimatland.
Denn würde man auf die Staatsangehörigkeit als alleiniges Kriterium abstellen, so müsste man konsequenterweise nicht nur weiblichen afghanischen Flüchtlingen im Iran, sondern auch solchen, welche in Deutschland leben, hierzulande Asyl gewähren.
Damit wären sie selbst gegenüber Deutschen privilegiert, welche nicht so ohne weiteres in die Schweiz migrieren können. (Natürlich würde dann irgendwo noch ein Paragraph eingefügt, damit so etwas in der Realität nicht geschieht. Aber dass ein solcher Paragraph als Korrektur überhaupt notwendig wird, zeigt schon, zu welch absurden Ergebnissen eine solche Regel führt.)
Selbstinteressierte Hilfswerke
Einmal mehr verrenken sich also die Hilfswerke in ihrem bedingungslosen Glauben an die Willkommenskultur bis zur Unkenntlichkeit. Woran das wohl liegt?
Auch hier ist die Medienmitteilung des Arbeiterhilfswerks unfreiwillig verräterisch: «Das SAH arbeitet im Bereich der beruflichen und sozialen Integration und kennt die Situation der Flüchtlinge.» Bekanntlich verliert niemand gerne seine Arbeit — ebenso wenig wie jemand gern gratis arbeitet. Darin dürften sich Angestellte von Hilfs- und Flüchtlingsorganisationen kaum von Angestellten anderer Branchen unterscheiden.
Zurück zu den weiblichen Flüchtlingen aus Afghanistan: Dass es ungerecht ist, wenn — beispielsweise — im Iran lebende Frauen afghanischer Staatsangehörigkeit in der Schweiz ohne weiteres Asyl erhalten, Iranerinnen hingegen nicht, dürfte eigentlich einleuchten.
Die Falschen profitieren
Doch selbst im Fall von Frauen, welche direkt aus Afghanistan in die Schweiz flüchten, dürften einmal mehr die falschen profitieren. Unter dem heutigen Regime der Taliban können Frauen nicht so einfach reisen — geschweige denn, in die Schweiz flüchten. Ohne tatkräftige Unterstützung durch die eigene Familie geht in dieser Beziehung rein gar nichts.
Afghanische Frauen, welche es tatsächlich schaffen, aus Afghanistan in die Schweiz zu flüchten, dürften deshalb schon in Afghanistan privilegierten Kreisen angehören und wenigstens im Kreise ihrer Familie gewisse Freiheiten geniessen.
Denjenigen, denen es wirklich schlecht geht und die besonders hilfsbedürftig wären, mit anderen Worten: Frauen, welche nicht nur vom mittelalterlichen Taliban-Regime, sondern darüber hinaus auch von ihren eigenen patriarchalen Familienmitgliedern unterdrückt werden — genau diese schaffen es mit Sicherheit nicht in die Schweiz.
Dass auch das Interesse an arrangierten Ehen, das heisst im Kern Zwangsheiraten, steigt, wenn dadurch materielle Vorteile erwerben werden können, braucht hier kaum noch erwähnt zu werden. Anstatt unterdrückten Frauen zu helfen, steigert die geänderte Praxis des SEM eher noch das Interesse an Zwangsheiraten und gibt damit einen Anreiz für die Unterdrückung afghanischer Frauen. Das kann es ja nicht sein!
Hinweis: Die in diesem Text geäusserten Meinungen und Ansichten sind jene des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Haltung oder Position der Redaktion.
(Symbolbild: Depositphotos.com)
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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