Einige der Kantone in der Schweiz haben noch nie einen Bundesrat gestellt. Trotzdem fühlt man sich dort nicht diskriminiert. Woran liegt das?
Im Kanton Schaffhausen wurde bei den eidgenössischen Wahlen in diesem Herbst der Sozialdemokrat Simon Stocker in den Ständerat gewählt, obwohl er mit seiner Familie in Zürich wohnt. Die «Weltwoche» griff den Fall auf, es gab einen kleinen Sturm im Wasserglas, und eine Stimmrechtsbeschwerde wurde eingereicht.
Resultat der ganzen Aufregung: Alles ging mit rechten Dingen zu — fand zumindest der Schaffhauser Regierungsrat. Es ist im Übrigen nicht das erste Mal, dass im nordwestlichsten Zipfel der Ostschweiz etwas Derartiges passiert.
Schaffhausens «halber» Bundesrat
Schaffhausen hat noch nie einen Bundesrat gestellt. Wirklich? Da wäre die Geschichte von Stefano Franscini. Stefano Franscini gehörte zwölf Jahre lang der Tessiner Regierung an, bevor er im Jahr 1848 als eines der ersten sieben Mitglieder in den Bundesrat des jungen Bundesstaates gewählt wurde.
Er ist auch bekannt als Vater der öffentlichen Statistik der Schweiz. Bereits 1827 veröffentlichte er sein 500-seitiges Werk «Statistica della Svizzera». Heute arbeiten beim Bundesamt für Statistik mehr als 800 Beschäftigte. Produzieren tun sie ein statistisches Jahrbuch mit 400 Seiten. Jeder Mitarbeiter trägt also gerade einmal eine halbe Seite dazu bei.
Zu der Zeit, als Stefano Franscini Bundesrat war, war es üblich, dass sich auch amtierende Bundesräte einer «Komplimentswahl» stellten und sich von der Bevölkerung ihres Wahlkreises als Nationalrat wählen liessen. Damit sollte sichergestellt werden, dass sie weiterhin den Rückhalt des Volkes genossen.
Wiederwahl verpasst
Prompt verpasste Bundesrat Franscini 1954 die Wiederwahl als Nationalrat in seinem Wahlkreis Tessin-Nord. Was nun? Da kam ihm der Kanton Schaffhausen zu Hilfe. Weil dort nach zwei Wahlgängen erst einer von zwei Sitzen im Nationalrat bestellt war, kandidierte Stefano Franscini in Schaffhausen — und wurde letztlich doch noch in den Nationalrat gewählt.
So kam Schaffhausen zu seinem bisher einzigen Bundesrat, wenn er auch in der Statistik nicht als solcher erfasst wurde. Schaffhausen hat also Erfahrung darin, Asyl für heimatlose Politiker zu bieten.
«Urkantone» ohne Bundesrat
Apropos Bundesräte: Die einzigen Kantone, die bisher keinen Bundesrat stellten, sind neben dem «Spezialfall» Schaffhausen die Kantone Uri, Schwyz und Nidwalden. Also ausgerechnet die «Urkantone» der Schweiz.
Natürlich handelt es sich dabei um bevölkerungsmässig eher kleine Kantone. Doch auch die beiden Appenzell sind eher kleine Kantone — und haben zusammen dennoch bereits vier Bundesräte gestellt.
Bewegen wir uns 3000 Kilometer Richtung Südosten: Dort versucht die israelische Armee derzeit gerade wieder einmal, einer islamistischen Terrororganisation Herr zu werden. Die bereits ein Dreivierteljahrhundert andauernden Probleme gehen im Kern drauf zurück, dass zwei verschiedene Völker dasselbe Land bewohnen möchten.
Die Verlierer schmollen
1948 kam es zum Kampf — und die Araber verloren. Oder präziser: Die umliegenden arabischen Länder griffen Israel an, doch anstatt sich für die in Israel ansässige arabische Bevölkerung einzusetzen, wollten sich die Herrscher jener Länder bloss soviel Territorium wie möglich einverleiben.
Seitdem schmollen die Verlierer und scheinen unfähig, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Und die arabischen Herrscher jener Länder sorgten mit Bedacht dafür, dass die arabischen Flüchtlinge aus Israel nie zu richtigen Staatsbürgern wurden. Denn als «ewige Flüchtlinge» in Flüchtlingslagern lebend waren sie ihren politischen Zielen viel dienlicher.
Der Sonderbundskrieg 1847
In der Schweiz geschah ziemlich genau 100 Jahre zuvor ähnliches: Es kam zum Krieg. Allerdings verlief dieser deutlich unblutiger: Nach drei Wochen und weniger als 100 Toten war der Spuk vorbei.
Dennoch gab es auch im Sonderbundskrieg 1847 einen klaren Sieger und einen klaren Verlierer. Verlierer waren die Kantone der Innerschweiz, Freiburg und das Wallis. Die meisten diese Kantone sind seit der Gründung des Bundesstaats 1848 im Bundesrat untervertreten. Einige davon stellten, wie gesehen, sogar noch nie einen Bundesrat. Zufall?
Es wäre für Scharfmacher ein leichtes, dies als «Diskriminierung» der Verlierer zu verkaufen. Doch nichts dergleichen geschah.
«Diskriminierung» ist kein Naturgesetz. Anstatt umgehend «Diskriminierung» zu schreien, kann man auch mal innehalten, ruhig die Vor- und Nachteile der neuen Situation analysieren und sich daran anpassen.
Die Welt ist selten schwarzweiss
Denn die Welt ist bekanntlich selten einfach schwarzweiss. So sind die Urkantone zwar im Bundesrat untervertreten, dafür aber — in Bezug auf ihre Bevölkerungsgrösse — im Ständerat übervertreten. Anstatt bloss die Nachteile zu sehen, kann man auch einmal Vor- und Nachteile gegeneinander aufrechnen.
In Nahost könnte die Rechnung der Besiegten stattdessen so lauten: Zwar wird unser Land nicht mehr von Herrschern des eigenen Volkes regiert, dafür haben wir Rechtssicherheit, eine kompetente Verwaltung und eine florierende Wirtschaft — anstatt unfähige, kleptokratische Willkürherrscher aus dem eigenen Volk.
Ob ein Glas halbvoll oder halbleer ist, liegt eben nicht am Glas, sondern im Auge des Betrachters. Wer überall «Diskriminierung» sehen will, sieht meistens auch bloss Diskriminierung.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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