Voraussichtlich im Herbst 2020 braucht St.Gallen einen neuen Stadtpräsidenten - oder eine Präsidentin. Es ist beunruhigend, welche Namen bisher herumgereicht wurden. Denn wer St.Gallen vorsteht, ist zugleich das Aushängeschild der Ostschweiz - oder sollte es sein.
Der St.Galler Stadtpräsident (die weibliche Form ist stets mitgemeint) ist gleichzeitig der Vorsteher Inneres und Finanzen der Stadt. Zu glauben, dass das städtische Oberhaupt nächtelang Zahlenmaterial wälzt, wäre aber naiv. Das sind Aufgaben, die der Finanzverwaltung obliegen. In erster Linie ist der Stadtpräsident primus inter pares, sprich: Er führt das Gremium an, das die Leitplanken der städtischen Politik setzt. Er oder sie repräsentiert die Stadt. Er oder sie gibt ihr ein Gesicht. Im Idealfall.
Es gab in der jüngeren Geschichte der Stadt St.Gallen denkbar unterschiedliche Stadtpräsidenten. Da war der «Stadtpapi» Heinz Christen (SP), der mit seiner jovialen Art eine perfekte Integrationsfigur abgab, über dessen politisches Erbe man aber unterschiedlicher Meinung sein kann. Sein Nachfolger Franz Hagmann (CVP) war aufgrund eines Krebsleidens ein Kurzzeitpräsident, der der Stadt seinen Stempel nicht aufdrücken kann. Thomas Scheitlin (FDP), der amtierende Stadtpräsident, wirkt souverän, hat aber bisher auch keinen Anlass für ein Denkmal hinterlassen. Es ist vielleicht auch das Amt an sich, das seine Inhaber im Wirken beschneidet: Ideologien verbieten sich als Stadtpräsident, man ist Brückenbauer und zu Kompromissen verpflichtet.
Und dennoch mag da und dort das Sehnen nach einer starken Persönlichkeit laut werden, die dafür sorgt, dass St.Gallen endlich wieder Aufmerksamkeit erhält. Nicht nur als Zentrum der eigenen Region, sondern darüber hinaus. Bei aller Umstrittenheit drängen sich Vergleiche mit dem Rorschacher Stadtpräsidenten Thomas Müller auf. Selbst seine ärgsten Feinde attestieren ihm, in der Stadt am See für Bewegung gesorgt zu haben. Vielleicht nicht immer im Sinn aller, aber unterm Strich scheint die Rechnung aufzugehen. Nach Jahrzehnten der Stagnation nimmt man Rorschach auch von weiter her wieder wahr. Müllers Vorgänger gebar sich als eine Art Sonnenkönig in einem Städtchen mit 9000 Einwohnern und profitierte sich eher an öffentlichen Anlässen als durch Taten. Das hat sich geändert.
Angesichts der bekannten «Baustellen» - Verwaisung der Innenstadt, abnehmende Bedeutung als Zentrum - ist die Besetzung des St.Galler Stadtpräsidiums deshalb mehr als das Füllen einer Vakanz in einem Fünfergremium. Es braucht einen Anreisser, einen Mitreisser, jemanden, der bereit ist, das Unmögliche zu denken, bevor ihn die Verwaltung und die Rechtsabteilung auf das Machbare zurechtstutzen. Kurz: Einen Mann oder eine Frau mit Ideen, der oder die auch fähig ist, diese zu vertreten. Wer St.Gallen präsidiert, ist stets auch Botschafter der ganzen Ostschweiz, denn wie eine Standortanalyse ergeben hat, assoziieren die meisten Leute die Ostschweiz schlicht mit St.Gallen.
Wir sprechen von einer Nachfolge in spätestens zwei Jahren, und es wäre naiv zu glauben, dass in diesem Zeitraum potenzielle Anwärter vom Himmel fallen. Namen, die sich heute noch nicht aufdrängen, sind auch in zwei Jahren keine Option. In dieser Hinsicht ist es tragisch, wie ratlos die Parteien - immer noch die erste Vorinstanz bei Ämterbesetzungen - wirken. In den letzten 15 Jahren waren drei Parteien im Stadtpräsidium vertreten, und gewählt wird keine Partei, sondern eine Persönlichkeit; entsprechend stehen alle Parteien in der Pflicht. Ihre bisherige inoffizielle Ausbeute ist aber, mit Verlaub, bescheiden.
Ein Stadtpräsident muss gewollt werden. Er muss nicht einfach die beste Wahl einer bescheidenen Auswahl sein, sondern beim Stimmvolk eine tiefe Sehnsucht auslösen: Ihn oder sie wollen wir an der Spitze. Die FDP, die quasi in der Pflicht steht, die Nachfolge zu bestreiten (und ihren Sitz im Stadtrat zu retten), wirkt derzeit erstaunlich ratlos in der Frage. Die kolportierten Vorschläge - natürlich alle noch inoffiziell - schwanken zwischen exotisch, bescheiden und ungenügend.
Aus der Tiefe des Raums bringt das «St.Galler Tagblatt» seinen früheren Chefredaktor Philipp Landmark ins Spiel, angeblich, weil er parteiintern im Gespräch sei. Namen werden immer herumgeboten, aber innerhalb der FDP ist dieser kaum verankert. Man darf davon ausgehen, dass hier bei der Zeitung eher der Wunsch der Vater der Gedanken war. Zwei weitere ebenfalls im «Tagblatt» ins Spiel gebrachte Namen sind klassische Vertreter der Verwaltung: Benedikt van Spyk, Vizestaatssekretär des Kantons St.Gallen und Isabel Schorer, derzeit städtische Standortförderin und demnächst Leiterin einer Kommunikationsagentur in St.Gallen. Die einstige Wirtschaftspartei FDP schafft es also nicht, einen klassischen Vertreter ihrer Werte in den Fokus zu rücken. Verwalten statt gestalten scheint die Devise. Verwaltet wird aber mehr als genug in St.Gallen. Wer gibt Gegensteuer, wenn nicht der Stadtpräsident?
Oft gehört wird seitens der CVP der Name von Martin Würmli. Der heutige Stadtschreiber von Zug sass einst im St.Galler Stadtparlament. Er ist blitzgescheit, gut vernetzt und wäre von allen Genannten mit Sicherheit die beste Wahl, wenn es um eine solide Weiterentwicklung der Stadt geht. Aber eben: Geht es nicht um mehr? Immerhin: Würmli, der in seinen bisherigen Funktionen vor allem zudienend war, ist es zuzutrauen, in einem Exekutivamt aufzublühen und sich weiterzuentwickeln. Verglichen mit der bisherigen FDP-Auswahl, auch wenn sie inoffiziell ist, wirkt Würmli wie eine Lichtgestalt.
Die SP wiederum wird sich, ihr Mittun vorausgesetzt, 2020 am liebsten auf bewährte Werte verlassen, sprich: Die aktuellen Mitglieder im Stadtrat. Ob man sich Peter Jans und Maria Pappa, die beide einen soliden Job machen, an der Spitze des Gremiums vorstellen kann, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Darüber hinaus ist das städtische Personalreservoir der derzeit erfolgreichsten Stadtpartei ebenfalls bereits erschöpft. Breite Basis, schmale Spitze.
Mögliche Ambitionen werden innerhalb des Stadtrats einer Kleinpartei (Sonja Lüthi, GLP) und einem Parteilosen (Markus Buschor) nachgesagt. Interessanterweise scheinen diese Optionen valabler als die der grossen Parteien. Lüthi hätte das Zeug zu einer Art «Corine Mauch von St.Gallen». Es gibt durchaus Parallelen zu der Zürcher Stadtpräsidentin. Buschor wiederum geniesst in Zeiten des Misstrauens gegenüber Parteien grossen Rückhalt bei pragmatisch denken Leuten, denen es um die Sache statt um die Ideologie geht. Beide haben zudem nicht die Fesseln, unter denen Angehörige grosser Parteien stets leiden.
Die Prognose ist recht einfach. Wenn die FDP nicht eine völlig neue Lösung aus dem Hut zaubert, ist sie das Stadtpräsidium los. Die CVP wahrt sich ihre Chancen mit einem Heimkehrer. Die SP müsste dafür sorgen, dass ihre beiden Stadtratsmitglieder - oder eines davon - schnell massiv an Profil gewinnt. Der Vorteil liegt derzeit aber ausserhalb der Volksparteien, bei Kleinparteien und Parteilosen. Die Zeiten, in denen Vorschläge der grossen Parteien unkritisch abgenickt wurden, sind vorbei.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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