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Begegnungen

«Meinen Beruf nehme ich auch mit nach Hause, weil er meine Berufung ist»

Eine Juristin wird im zweiten Schritt zur Sozialarbeiterin – und findet hier ihre Mission. In unserer Reihe «Begegnungen» trifft Marcel Emmenegger auf die Thurgauerin Nicole Hauptlin, die sich für Armutsbetroffene einsetzt.

Marcel Emmenegger am 21. Juni 2021

Ich hatte in den letzten Tagen eine Begegnung mit lic.iur. Nicole Hauptlin. Nicole ist auch ausgebildete Sozialarbeiterin FH und arbeitet für die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) in Zürich. Die UFS ist ein gemeinnütziger Verein und berät, begleitet und vertritt Armutsbetroffene kostenlos bei Anliegen zur Sozialhilfe. In ihrem Matronats- /Patronatskommittee sind u.a. die bekannte Dozentin für Soziale Arbeit Silvia Staub-Bernasconi und der Nationalrat / Präsident der Grünen Partei Balthasar Glättli, vertreten. Die Maxime der UFS ist ein Teilsatz aus der Präambel der Bundesverfassung, formuliert von Adolf Muschg: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen». Die UFS setzt sich für die Umsetzung dieser Worte ein.

Nicole, wir kennen uns etwa sieben Jahre, wir haben zusammen Soziale Arbeit in Zürich studiert. In einem eher meditativen Mediationsseminar erfuhr ich von Dir, dass Du eigentlich Juristin bist. Was hat Dich dazu bewogen, nach dem Jus-Studium noch Soziale Arbeit zu studieren?

Da muss ich früher beginnen. Vor meinem Studium war ich an einer Veranstaltung, an der eine inzwischen leider verstorbene Professorin erklärt hat, dass die Rechtswissenschaft kaum etwas mit Recht bekommen, Recht haben oder gar Gerechtigkeit zu tun habe. Als mein Studium auf die Lizentiatsprüfungen zusteuerte, hatte auch ich endlich diese weisen Worte begriffen. Ich habe gedacht, dass ich niemals als Juristin arbeiten könne, eben weil ich meinen Mandant:innen nicht zu ihren Rechten oder Gerechtigkeit verhelfen kann. So hatte ich schlussendlich zwar das Lizentiat in der Tasche aber erst einmal die Nase voll von der Juristerei. In der Prüfungsphase arbeitete ich ehrenamtlich mit Jugendlichen und verstand diese Arbeit als Ausgleich – und was mir wichtig war: ich fand sie sinnvoll. Den Moment, in dem ich mein Uni-Diplom in die Schublade gesteckt und einen Arbeitsvertrag im Sozialbereich unterschrieben habe, werde ich nie vergessen. Das erschien mir selbst surreal, ich wusste aber, dass es für den Moment genau das richtige war. Nun, nach einer gewissen Zeit erschien es mir dann nichts als logisch, dass ich in Sozialer Arbeit ebenfalls einen Abschluss brauche.

Recht und Gerechtigkeit sind zwei unterschiedliche Kategorien, das habe ich auch selber merken müssen. Trotzdem: Wenn mich niemand danach fragt, was Gerechtigkeit ist, weiss ich es. Muss ich Gerechtigkeit aber jemandem erklären, weiss ich auf einmal nicht mehr so genau, was Gerechtigkeit eigentlich ist. Ähnliches sagte der Kirchenvater Augustinus über den Begriff «Zeit». Reden wir über die Zeit Deiner Kindheit.

Ich bin als älteste von vier Schwestern im Thurgau aufgewachsen. Als ältestes Kind bist du vermutlich mit einer Portion Widerstandskraft geboren, du musst immer Neuland pflügen. Meine Eltern hatten sich bei den Pfadfindern kennengelernt, sie waren beide noch als Erwachsene aktive Pfadis und haben mich praktisch jedes Wochenende zu Anlässen mitgenommen. Ich habe deshalb schon als kleines Kind gemerkt, dass die Welt nicht bei der Kleinfamilie aufhört, sondern dass wir in einer Gesellschaft aus unterschiedlichsten Menschen leben, die trotz ihrer Vielfältigkeit miteinander harmonieren und gemeinsam viel auf die Beine stellen. Ich denke, dass ich auch aus diesem bunten Umfeld früh gelernt habe, selbständig zu Handeln und für mein Handeln und meine Überzeugung einzustehen.

Nicole Hauptlin

Nicole Hauptlin.

Meine Kindheit fand in zwei Welten statt. Wir lebten in einer Villa voller Antiquitäten, mit Kronleuchtern und Stuck an den Decken. Zu meinem 8. Geburtstag gab es ein Fest, zu dem mehr Menschen kamen als ich kannte – und für uns Kinder war ein Ponyreiten organisiert. Nach der Scheidung der Eltern stand ich in einer ganz anderen Welt. In dieser Welt reichten die Unterhaltszahlungen nicht aus und wir mussten teilweise von der Sozialhilfe unterstützt werden. Das war eine sehr harte Zeit, in der wir in einer der schäbigsten Wohnungen des Dorfes wohnten. Es war eine Zeit, in der ein Eintritt in die Badi fast unerschwinglich war. Der finanzielle Mangel war wie ein Schatten ständig da. Diese zwei Welten zu erleben, hat mich sicherlich sehr stark geprägt.

Das ist wie meine Kindheit, nur in umgekehrter Reihenfolge. Ich habe auch in zwei Welten gelebt. Den Switch «plötzlich arm, plötzlich reich», hatte auch ich im Alter von ungefähr acht Jahren: Ich wurde adoptiert und war plötzlich «reich“» aber ziemlich bald innerlich arm. Dieser Umbruch in meiner Kindheit beschäftigt mich bis heute. Meine persönliche Erkenntnis daraus ist aber, dass mehr Geld, als es zum einfachen Leben notwendig ist, nicht automatisch glücklich macht. Als ich dann mit etwa vierzig Jahren Soziale Arbeit studierte, lebte meine Familie von weniger Einkommen als eine Familie, die Sozialhilfe beziehen würde. Ich war darum sehr dankbar für die Caritas Kulturlegi, mit der wir zu ermässigten Preisen in die Badi konnten und das beste war, es gab 30% Discount bei der Stiftung Tosam, Herisau. Praktisch alle unsere Möbel und Haushaltsgegenstände sind aus dem WinWin Markt, inkl. unser Geschirr. Wir haben unterschiedliche Lebenserfahrungen und politische Haltungen, Nicole – und doch wirken wir heute beide in der wirtschaftlichen Sozialhilfe. Du arbeitetest bei der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht UFS. Was macht ihr da genau?

Recht haben, recht bekommen und für Gerechtigkeit sorgen.

Also so wie Zorro oder eher wie Robin Hood?

Nein ernsthaft. Wir sind die erste und grösste Rechtsberatungsstelle für Sozialhilferecht. Menschen aus der ganzen Deutschschweiz, die Fragen im Zusammenhang mit Sozialhilfe haben, können uns anrufen und werden beraten. Sehen wir Missstände, nehmen wir Kontakt mit den jeweiligen Sozialdiensten auf. Finden wir in klärenden Gesprächen keinen gemeinsamen Nenner, vertreten wir die Sozialhilfe beziehenden Personen kostenlos in den Verfahren gegen die Behörden. Und da haben wir tatsächlich Erfolgsquoten von 80%. Das heisst, dass in 4 von 5 Fällen, gegen die wir ein Rechtsmittel einreichen, tatsächlich die Gemeinde falsch gehandelt hat.

Neben der Rechtsberatung haben wir noch den Bereich Bildung. Dazu gehören einerseits Weiterbildungskurse für Fachpersonen, die wir anbieten, andererseits auch Vorlesungen an Hochschulen, die ich abhalte. Im Bereich Öffentlichkeitsarbeit versuchen wir, für Sozialhilfethemen zu sensibilisieren und den Diskurs weg vom „faulen Sozialschmarotzer“ hin zu den wirklich drängenden Sozialhilfeproblemen zu lenken.

Natürlich gibt es auch Missbrauch und Betrug in der Sozialhilfe, aber du hast vollkommen recht, dass man wegen ein paar Einzelfällen nicht alle Sozialhilfebeziehenden über einen Kamm scheren soll. Das sollte man mit keiner Menschengruppe. Wenn man mit Vorurteilen auf Menschen zugeht, bekommt man meistens die Reaktionen, die man erwartet. Es wird zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Darum ist es wichtig, dass man sich in der Sozialen Arbeit nicht desensibilisiert. Wer als Werkzeug nur einen Hammer zur Verfügung hat, sieht quasi in jedem Problem nur einen Nagel. Nicole, Du siehst viel menschliches Leid. Gehen Dir die Schicksale der Menschen auch in Deiner Freizeit nach?

Mir gehen die Schicksale armutsbetroffener Menschen in der Freizeit nach. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, sieht diese Schicksale überall. Auf dem Bänkli am Bahnhof oder mit dem Taschenrechner im Laden, sie versuchen, möglichst nicht aufzufallen.

Meinen Beruf nehme ich auch mit nach Hause, weil er meine Berufung ist. Wer immer mich nach meinem Job fragt, kann sich auf einen recht umfassenden Abriss über den gesellschaftlichen Zusammenhalt und menschenwürdige und rechtmässige Sozialhilfeleistungen gefasst machen. Gerne gespickt mit den aktuellsten Beispielen. Von den Einzelschicksalen, die zwischen den Aktendeckeln auf dem Schreibtisch liegen, kann ich mich jedoch gut lösen. Gerade in diesem heiklen Punkt gelingt mir die Abgrenzung zwischen Beruf und Freizeit gut.

Laut einer Legende über einen chinesischen Kaiser, der vor langer Zeit lebte, sollten die Gesetze einmal aufgeschrieben werden. Doch die Weisen, die den Kaiser berieten, hielten dies für nicht ratsam. Sie dachten, dass die Menschen, sobald sie die Gesetze niedergeschrieben sahen, streitsüchtig werden würden. Die Menschen würden beginnen, sich Möglichkeiten auszudenken, die Gesetze zu umgehen. Und genau das ist es, was die Menschen bis heute ständig tun. Was läuft falsch in unserem Staat, dass wir eine Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht brauchen?

Das wären besser zwei Fragen. Was läuft falsch mit der Sozialhilfe und was läuft falsch, dass der Staat das nicht endlich in den Griff bekommt?

Bitte sag‘s mir.

Falsch mit der Sozialhilfe läuft, dass sie immer stärker unter Druck steht. Sie soll ständig weniger Leistungen ausrichten, die Menschen stärker disziplinieren und möglichst schnell in prekäre Arbeitsverhältnisse bringen – Hauptsache sie kosten uns nichts mehr. Diese Denke greift zu kurz. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind in der Anzahl begrenzt. Jede Person, die eine schlecht bezahlte Arbeit auf Abruf erhält, erhält diese, weil eine andere Person diesen schlecht bezahlten Job verloren hat. Sozialhilfebeziehende Personen laufen, um der Gesellschaft zu genügen, ständig am Limit: finanziell, emotional, gesundheitlich. Alle paar Jahre wird die Forderung laut, die Sozialhilfe als Aufgabe des Bundes anzusehen. Bisher wehren sich die Kantone und Gemeinden massiv dagegen. Vermutlich haben sie Angst davor, die Kontrolle über die einzelnen Sozialhilfebeziehenden zu verlieren. Es sind dieselben Ängste, welche so lange verhindert haben, dass der Kindes- und Erwachsenenschutz auf Bundesebene geregelt und auf Kantonsebene umgesetzt wird. Dabei sehen wir durch das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, dass die Betroffenen gerechter behandelt werden, und dass durch die Professionalisierung auch die Kosten für die einzelnen Gemeinden fallen. Meines Erachtens ist es notwendig, dass die Sozialhilfe als Aufgabe von den Gemeinden weggenommen wird. Die Vorteile lägen auf der Hand: Sozialhilfebeziehende wären innerhalb der Gemeinde weniger stigmatisiert, da sie nicht als Sozialhilfebeziehende bekannt sind. Die massiven Unterschiede in der Umsetzung der Sozialhilfe würden ausgeebnet und die Kosten würden ebenfalls besser verteilt werden.

Schildere bitte anonym einen konkreten Fall, damit wir sehen, was Du meinst.

Frau Z., eine alleinerziehende Mutter von drei kleinen Kindern, war in administrativen Angelegenheiten überfordert. Dies führte dazu, dass sie teilweise keine Familienzulagen und Kinderalimente geltend machte. In den Akten des Sozialamtes hiess es unter anderem:

«KL [Klientin] bringt eine Beige Post-Rechnungen, Zahlungsbefehle etc.. Sie scheint mit der Situation völlig überfordert zu sein.» «Da sie Mühe mit den Unterlagen hat, kommt sie morgen vorbei.» «Am xx.xx.20xx ist das dritte Kind von Frau Z. geboren […] Kindsvater zahlt Alimente nicht mehr, da er seinen Job verloren hat. Ich lasse die Einnahmen im Budget noch drin.»

Aus den Akten ging somit hervor, dass das Sozialamt von der administrativen Überforderung der alleinerziehenden Frau wusste. Ebenfalls war dem Sozialamt bekannt, dass die Alimente, die vom sozialhilferechtlichen Bedarf abgezogen wurden, gar nicht vorhanden waren. Dennoch berücksichtigte das Sozialamt während Monaten CHF 1‘050 als hypothetische Einnahmen im Sozialhilfebudget. Das ist rund die Hälfte des Geldes, das die vierköpfige Familie zum Leben gehabt hätte. Dieses Geld fehlte der Mutter mit den drei Kindern jeden Monat. In einem solchen Fall hätten die Gelder nie eingerechnet werden dürfen. Vielmehr hätte das Sozialamt die alleinerziehende Mutter im Rahmen der persönlichen Hilfe gezielt unterstützten müssen. Einerseits den Betrag ausgleichen, und andererseits die Alimentenbevorschussung in die Wege zu leiten. Nach langer Diskussion mit der Leitung des Sozialamtes wurden die einbehaltenen Sozialhilfegelder rückwirkend ausgerichtet. Hätten wir nicht interveniert, so wäre es fraglich, ob die Familie jemals aus dieser Situation heraus gefunden hätte. Finanziell wurde die Situation zwar korrigiert, aber Frau Z. hat in den Monaten, in denen sie kaum Rechnungen bezahlen konnte, kaum wusste, was sie Ihren Kindern zu Essen geben sollte, stark gelitten. Sie hat beim Sozialamt immer wieder darauf hingewiesen, dass sie keine Alimente erhalte, dass sie nicht wisse, wovon sie der Tochter grössere Schuhe kaufen solle, dass sie weder ein- noch aus wisse, dass sie manchmal weinen müsse, weil sie nicht weiterwisse. Das Schlimmste für sie waren nicht die Schulden, die sich häuften, nicht die tägliche Not, sondern dass niemand ihre Einwände ernst genommen und niemand ihr zugehört hat.

Das hört sich nicht gut an. Als Sozialarbeiter auf einem Sozialamt habe die öffentlichen Interessen vertreten und war auch schon in Rechtsstreite mit euch verwickelt. Die Telefonate zwischen Deinem Chef und mir wurden hart geführt, auch in der Korrespondenz schenkten wir uns nichts.

Unser Geschäftsleiter und Du respektiert euch eben genau wegen eurer engagierten Auseinandersetzung während dieser Zeit.

Zu dieser Zeit las ich Saul Alinsky. Die Interaktionen mit Euch erinnerten mich an ihn. Trotzdem finde ich es wichtig, dass es Euch gibt. Ich muss aber auch gestehen, dass ich einiges dazugelernt habe. Heute sehe ich Eure Arbeit positiver. Ich habe in den letzten Jahren vereinzelt auch Sachen gesehen, von denen Du hier sprichst. Das ist übrigens der Grund, weshalb ich einen Lehrgang in öffentlicher Verwaltungsführung besucht habe. Warum ist die Rechtsstaatlichkeit, also beispielsweise mit einsprachefähigen Verwaltungsentscheiden zu arbeiten, so wichtig in der Sozialen Arbeit?

Du weisst, Sozialhilfe erhält in der Schweiz nur, wer nicht irgendwo selbst noch Geld zum Leben auftreiben kann. Solche Menschen stehen vor dem finanziellen Nichts. An einem solchen Punkt ist es einfach nicht akzeptierbar, wenn Leistungen verweigert werden ohne dass man sich dagegen wehren kann. In der Sozialhilfe werden viele sehr einschneidende Entscheide getroffen, welche zum Teil sehr stark in die Grund- und Menschenrechte der Betroffenen eingreifen. Rechtlich stehen wir immer vor der Frage: Darf der Staat genau das von genau dieser Person verlangen? Das Handeln des Staates, das sich auf eine Einzelperson auswirkt, muss stets von einer gerichtlichen Instanz auf ihre Rechtmässigkeit überprüft werden können. Gewisse Gemeinden scheinen auch Schwierigkeiten zu haben, Sozialhilfe beziehenden Personen die gleiche Menschenwürde zuzugestehen, wie allen anderen Menschen. Ich zitiere aus einer amtlichen Verfügung:

«Der Klient wird hiermit darauf hingewiesen, dass er gestützt auf die gesetzlichen Grundlagen als Befehlsempfänger gilt. Die Klienten haben den Anordnungen der Behörde Folge zu leisten und die Folgen eines unkooperativen Verhaltens zu tragen. Die Klienten der Sozialhilfe haben die Pflicht, alles daran zu setzen, sich aus der Notlage selbst heraus zu manövrieren und an sämtlichen Programmen, Integrationsmassnahmen etc. teilzunehmen. Die Behörde definiert, welche Massnahmen für richtig erachtet und verfügt werden.»

Diese Gemeinde ist der Ansicht, dass sie über ihre Sozialhilfebeziehenden vollumfänglich verfügen darf, was natürlich rechtsstaatlich unhaltbar ist. Im Rechtsmittelverfahren wurde das Menschenbild der Gemeinde dann auch als «zumindest fragwürdig» gerügt.

Umm… weisst Du, Nicole, es gibt den Spruch «Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.» Ich glaube aber nicht, dass damit das Menschenbild der ganzen Gemeinde fragwürdig ist. Aber ich gebe Dir recht, gute Public Governance sieht anders aus.

Das ist natürlich juristisch betrachtet. Die Gemeinde hat verfügt. Natürlich sind es nicht die einzelnen Menschen, sondern die Gemeindevertreter:innen als Gremium.

Alles klar. Du warst anfangs zurückhaltend, mir ein Interview zu geben, weil die Ostschweiz eher konservativ gelagert ist. Mein Anliegen in dieser Rubrik «Begegnungen» aber ist, dass man politisch völlig unterschiedlicher Meinung sein kann und trotzdem Respekt für den anderen Menschen haben kann. «Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Äussersten dafür kämpfen, dass sie es sagen dürfen», meinte Voltaire. In Zeiten der sogenannten Cancel Culture und Politischen Korrektheit entfremden wir uns jedoch immer mehr von der freien Meinungsäusserung. Die Gräben sind leider mittlerweile so tief, dass man nicht mehr miteinander spricht.

Mein anfängliches Zögern hing tatsächlich mit dem gesellschaftlichen Graben zusammen. Die Anfeindungen gegen die Sozialhilfe sind massiv und sozialhilfebeziehende Personen werden sehr stark stigmatisiert und ausgegrenzt. Ich befürchtete, mit meinen Ansichten in ein Wespennest aus Widerspruch zu stechen. Solches zu erleben, tut mir immer weh. Ich kann die Sicht von Personen, die Sozialhilfebeziehende nur als Menschen zweiter Klasse, mit maximal zweitklassigen Rechten verstehen, kaum aushalten.

Das Problem ist hier jedoch weder die Cancel Culture noch die Politische Korrektheit. Beim Blick auf Armutsbetroffene gibt es krasse Unterschiede in der Gesellschaft. In der Verfassung steht, dass der Staat Hilfe leistet, wenn sich die Person nicht selbst die nötigen Mittel verschaffen kann. Das bedeutet, dass nur der Bedarf darüber bestimmt, ob jemand Sozialhilfe erhält, der Grund, weshalb dieser Bedarf entstand, ist völlig irrelevant. In den SKOS-Richtlinien steht, dass dieser Bedarf, welcher gedeckt werden soll, ausreichen muss, um die Lebenshaltungskosten zu decken und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ennet des Grabens scheint der Blick ein anderer zu sein. Es erscheint mir, als gestehe man Armutsbetroffenen maximal so viel zu, dass sie nicht verhungern und nicht in einem Hauseingang schlafen müssen. Dabei geht vergessen, dass ausreichende Sozialhilfeleistungen auch die Gesellschaft sicher machen. Es gibt einen Grund, weshalb man sich in den Strassen von St. Gallen sicherer fühlt als in den Slums von Bangalore oder den Favelas von Rio.

Darüber werde ich gerne mal nachdenken. Du bist am 1. Mai im Volkshaus Zürich als Rednerin aufgetreten. Über was hast Du gesprochen?

Das 1. Mai Komitee stellte die Armut in der Schweiz in den Mittelpunkt der Veranstaltungen und ich habe die Gelegenheit ergriffen, über ein rechtssoziologisches Thema zu sprechen: den Zugang zum Recht. Dieser Zugang zum Recht ist für Personen, die Sozialhilfe beziehen, stark erschwert. Es beginnt damit, dass der Sozialhilfe-Dschungel sehr vielfältig ist: jeder Kanton hat seine eigenen Gesetze, jede Gemeinde setzt diese Gesetze unterschiedlich um. Es geht weiter damit, dass Sozialhilfebeziehenden oft gar nicht bewusst ist, dass Sie gewisse Rechte haben. Auch ist für sie fast unmöglich, zu erfahren, was ihre Rechte sind. Zuletzt ist es sehr schwierig, die eigenen Rechte geltend zu machen, denn die Verfahrensvorschriften sind von Kanton zu Kanton verschieden und eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung wird kaum gewährt, obwohl die Betroffenen meist nicht in der Lage sind, alleine einen Prozess zu führen.

«Die Arbeit war nicht immer eine Ware. Die Arbeit war nicht immer Lohnarbeit, das heisst freie Arbeit. Der Sklave verkauft seine Arbeit nicht an den Sklavenbesitzer. Er selbst ist eine Ware, aber die Arbeit ist nicht seine Ware. Der freie Arbeiter dagegen verkauft sich selbst, und zwar stückweis. Er versteigert 8, 10, 12, 15 Stunden seines Lebens, einen Tag wie den andern, an den Meistbietenden, an den Besitzer der Rohstoffe, der Arbeitsinstrumente und Lebensmittel, d.h. an den Kapitalisten», sagte Marx. Die meisten Menschen versteigern also nach Marx ihre Lebenszeit an die Arbeitgeber um zu überleben und bezahlen so gesehen die Waren im Supermarkt mit ihrer eigenen Lebenszeit. Es hat in der Schweiz lange gedauert, bis die Arbeiterinnen und Arbeiter anständige Löhne erhielten. Man sollte sich mal mit älteren Menschen darüber unterhalten, besonders solche, die auf dem Land aufgewachsen sind. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen, was damals gang und gäbe war. Doch langsam wird das Erreichte wieder vom «Kapital» untergraben mit neuen «Innovationen» wie prekärer Arbeit. Was ist vor diesem Hintergrund Deine Zukunftsvision für die Schweiz?

Karl Marx und andere Denker der frühen Linken haben viel angestossen, was heute in unserer Gesellschaft als normal gilt. Ohne die Internationale würden Arbeiter:innen auch in der Schweiz noch immer ausgebeutet und müssten bis zum Tode schuften, wären noch immer rechtlos. Marx kleines Manifest ist einfachen Arbeiter:innen in die Hände gefallen und sie haben daraus genau das gelesen, was sie forderten: einen existenzsichernden Lohn, kein Schinden bis zum Umfallen. Damit schienen sie eine Zeit lang erfolgreich. Heute schaffen Plattformarbeit, Arbeit auf Abruf, Scheinselbständigkeit, all diese neueren Arbeitsformen wieder prekäre Lebensverhältnisse in denen ein Lohn nicht einmal ausreicht, einer Person eine gesicherte Existenz zu bieten. Das soll in meiner Vision einer zukünftigen Schweiz nicht möglich sein. In einer in meinen Augen idealen Schweiz würden sich alle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt engagieren und sich dessen bewusst sein, dass sie alle Anstrengungen unternehmen müssen, um die Einkommens- und Vermögensschere wieder kleiner zu machen. In dieser Schweiz ist klar, dass niemand, der zwei Kinder und einen Fulltime-Job hat zusätzlich noch Sozialhilfe beziehen muss, weil der Lohn nicht ausreicht. Meine Vision der Schweiz kennt keinen Klassismus, also keine Vorurteile oder Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position.

Das erinnert mich an John Rawls «A Theory of Justice». Rawls’ Theorie basiert auf einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag, der die Grundsätze des Zusammenlebens regelt. Dieser fiktive Vertrag wird von Personen geschlossen, die hinter einem «Veil of Ignorance“»(Schleier des Nichtwissens) sind und über ihre zukünftigen individuellen Interessen, Fähigkeiten und soziale, wie ökonomische Stellung in der Gesellschaft noch keine Ahnung haben. Was wünschst Du Dir von der Gesellschaft, also von Deinen Mitmenschen?

Ich wünsche mir, dass wir die Gesellschaft als Gemeinschaft begreifen, in der jedes Individuum mit anderen Individuen interagiert. Das bedeutet, dass sich alle bewusst sind, dass jede Handlung, die jemand begeht, Einfluss auf andere Personen hat und das Leben der anderen Personen auch immer das eigene Leben beeinflusst. Das ist eine sehr banale Binsenwahrheit. Doch die Akzeptanz dieser Binsenwahrheit ist die Grundlage dafür, dass wir als Gesellschaft aktiv zur Entwicklung eines besseren Lebens für all unsere Gesellschaftsmitglieder beitragen.

Spenden für die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht: https://www.sozialhilfeberatung.ch/page/spenden

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