Nachdem ein 15-Jähriger in Zürich einen orthodoxen Juden niedergestochen und lebensgefährlich verletzt hat, gehen die Emotionen hoch. Überraschend kam dieser Übergriff für Roland Richter, Vertreter der Jüdischen Gemeinde St.Gallen, aber nicht.
Wie ist es möglich, dass sich ein 15-Jähriger derart radikalisiert? Auf einen orthodoxen Juden losgeht, ihn niedersticht und dabei lebensgefährlich verletzt? Ein Bekennervideo auftaucht, in welchem der Jugendliche dem Islamischen Staat seine Treue schwört und sein Ziel erklärt, möglichst viele Juden zu töten? Viele offene Fragen, auf die vielleicht niemals eine Antwort gefunden wird.
Die Tat, die sich vergangenen Samstag in Zürich abgespielt hat, schockiert – nicht nur die gesamte Schweiz, sondern sie sorgt auch international für Schlagzeilen. Dass sich solche Szenen in der beschaulichen Schweiz abspielen, kam vielleicht für viele überraschend. Nicht so jedoch für Roland Richter.
Er ist der Vertreter der Jüdischen Gemeinde St.Gallen, hat viele Jahre eine eigene Arztpraxis geführt. «Wir haben schon viel früher damit gerechnet», sagt er im Gespräch mit «Die Ostschweiz». «Im letzten halben Jahr gab es weltweit einen Anstieg von Judenhass. Es wäre vermessen, zu denken, dass wir in der Schweiz eine Art ‘Insel’ sind und es hier nicht passiert.»
Negative Eigenschaften
Laut Richter kann der Antisemitismus in vier Strömungen eingeteilt werden. Mit Antisemitismus werden Judenfeindschaft oder der Judenhass bezeichnet. Nach dem Holocaust wurde er zum Sammelbegriff, und sämtliche negative Eigenschaften wurden «den Juden», Einzelpersonen oder Gruppen zugeordnet.
Seit dem Mittelalter gäbe es die traditionelle Ablehnung, welche mal mehr, mal weniger stark zementiert werde. In den letzten Jahren sei vor allem aus den USA ein weiterer dazugekommen, so Richter. «Er hat dazu geführt, dass die Welt in Weisse und Nicht-Weisse geteilt wird. Die Juden werden den Weissen zugerechnet, auch wenn 60 Prozent der in Israel lebenden Juden nicht weissstämmig ist.» Gerade linke Kreise hätten diese Deutung gerne aufgenommen.
Weiter kämen ganz aktuell aufflammende auf Israel bezogene Judenhass dazu, und mit diesem verwandt der islamische Judenhass. «Alle Strömungen fliessen ineinander, können aber von sich unterschieden werden», fasst Richter zusammen.
Angst vor Briefbomben
Das Ergebnis ist ein trauriges – und kann zu solchen Übergriffen wie jüngst in Zürich führen. Aber auch im Alltag eines Juden ist der Hass spürbar. Und sei es nur, indem Sicherheitsmassnahmen getroffen werden müssen. Als langjähriger Präsident der Jüdischen Gemeinde St.Gallen und Arzt hätten die Leute von seiner Religion gewusst. «Ich habe meinen Mitarbeiterinnen jeweils gesagt, dass ich Postsendungen, die nicht klar identifizierbar sind, nur verschlossen auf meinen Schreibtisch gelegt haben möchte. Lange waren Briefbomben weit verbreitet», erinnert sich Richter zurück.
Kein Stammtisch
Ausserdem setzt sich Richter mit keinen unbekannten Menschen an einen Wirtshaustisch. Sich in einer «Bierseeligkeit dem Risiko auszusetzen, Sachen anhören zu müssen, die ich nicht hören möchte, ist mir zu gross.»
Worte, die einen gewissen Einblick geben, dass der Judenhass auch vor der Ostschweiz nicht Halt macht. Es gehöre jedoch zur Normalität einer Minderheit, damit umgehen zu können, versichert Richter.
Direkter Kontakt mit Polizei
Während in Zürich die Sicherheitsvorkehrungen raufgefahren werden, hält man sich in St.Gallen lieber bedeckt. «Sie verstehen sicherlich, dass ich aus nachvollziehbaren Gründen nicht direkt darauf eingehen möchte», sagt Richter im Gespräch. Nur so viel: «Wir pflegen einen unkomplizierten und direkten Kontakt mit der St.Galler Stadtpolizei.»
Dies hätte sich auch vergangenen Oktober widerspiegelt, als eine propalästinensische Kundgebung in St.Gallen abgehalten wurde, welche zum Schluss ausgeartet ist. Die Polizei kam auf die Jüdische Gemeinde zu, um sie als Beobachter beizuziehen. «Sie haben uns aufgefordert, zu melden, wenn die Polizei eingreifen sollte», sagt Richter.
Gefühle bleiben
Was nach dem neusten Angriff bleibt, sei ein «Sockelgefühl von Unbehagen». Laut Richter rücken die Gemeindemitglieder noch näher zusammen, und seien gerne unter ihresgleichen. Denn in Zukunft, ist Richter überzeugt, werde sich das Weltgeschehen nicht ändern. Und auch nicht Halt vor der Schweiz machen. «Was wir nicht wollen, ist eine Symbolpolitik. Es ist schön und gut, wenn überparteiliche Aussagen gemacht werden, dass man gegen Antisemitismus ist. Nützen tut uns das aber nichts», sagt Richter.
Aufklärung an Schulen
Mittelfristig müsste das Ziel sein, Aufklärungsarbeit zu leisten. Und zwar insbesondere im Bereich der Oberstufe. «Wir müssen mehr in die Diskussion gehen und auch unbequeme Fragen nicht scheuen», fasst Richter es zusammen. Der Antisemitismus sei eine Art «Thermometer» für die Befindlichkeit der Bevölkerung. Der Judenhass sei bis zum Ausbruch von Covid eher verdeckt gewesen. «In Zusammenhang mit der Pandemie flammten erste antisemitistische Verschwörungstheorien auf», sagt Richter.
Die Menschheit sei nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs, des Nahost-Konflikts, der wirtschaftlichen Veränderung und nicht zuletzt der Preissteigerung grösstenteils verunsichert. Und zu spüren bekommen dies nun eben die Minderheit, die jüdischen Vertreter.
(Bild: Depositphotos/Religion.ch)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.