Markus Somm gefällt sich in der Rolle des Intellektuellen — oft allerdings mehr Rolle als Intellektueller. Sein neuster Streich: Er fordert eine Stimmpflicht für alle — unter Androhung drakonischer Bussen.
Der Chefredaktor des «Nebelspalters» gefällt sich in der Rolle des Intellektuellen — oft allerdings mehr Rolle als Intellektueller. Sein neuster Streich: Er fordert eine Stimmpflicht für alle — unter Androhung drakonischer Bussen.
Sein Argument: Wer in Schaffhausen eine Wahl oder Abstimmung schwänzt, wird derzeit mit sechs Franken gebüsst. Das Resultat: Die Stimmbeteiligung in Schaffhausen liegt rund zwanzig Prozent über dem nationalen Durchschnitt.
Dies bei einem, gemäss Chefredaktor Markus Somm, «lächerlichen» Bussgeld: «Sechs Franken — das ist billiger als ein Grande Latte bei Starbucks (in Zürich: 6.90 Franken)». Und dennoch: «Wer kippt schon gerne einen Grande Latte in den Rheinfall?»
Stimmungsaufheller am Morgen
Warum es ausgerechnet ein Grande Latte sein muss, darüber kann man nur rätseln. Vermutlich ist dies sein grosser Stimmungsaufheller am Morgen. Beim R(h)einfall ist die Assoziation — angesichts des lamentablen Zustands seines Blatts — etwas offensichtlicher. Und ein Thema für Freudianer: Warum kauft einer eine Satirezeitschrift, wird aber immer ausgesprochen bierernst, wenn er sich eine Idee in den Kopf gesetzt hat?
Denn bei sechs Franken Busse — einem Grande Latte — möchte es Somm nicht bewenden lassen. Warum bloss einen Grande Latte in den Rheinfall schütten, wenn man auch gleich 145 Becher reinkippen könnte, den Gegenwert von 1000 Franken?
Journalist Somm richtete eben schon immer gern mit der grossen Kelle an. Und sein Geld den Bach runtergehen zu sehen, damit hat er ja auch ausreichend Erfahrung. Kein Wunder, möchte er andere ebenfalls an dieser glücklichen Erfahrung teilhaben lassen.
Somm will Stalin sein
Auch seinen Blick hatte er schon immer nach oben gerichtet. Zwar strebt er nicht gerade danach, Gott zu sein — Stalin tut's in diesem Fall auch: «Wenn wir so nicht umgehend auf eine Stimmbeteiligung von über 90 Prozent kommen, heisse ich Josef Stalin.»
Dieser Titel sei ihm gewährt. In Sachen Sadismus eifert er jedenfalls schon einmal tüchtig seinem Vorbild nach: «Wer sein Wahlrecht nicht ausübt, soll bestraft werden — mit einer Busse, die wehtut: 1000 Franken. Die Rechnung kommt per Post mit der Steuerrechnung, damit es noch mehr wehtut.» Autsch!
Warum diese Obsession, diese Freunde an der Boshaftigkeit? Freudianer würden sagen: Da kaum jemand hierzulande den «Nebelspalter» als Lektüre wählt, will er nun eben kompensatorisch die ganze Schweiz zum Wählen zwingen — oder im Fall der Verweigerung bestrafen.
Akademiker und Besserverdiener
Der Verfasser selber begründet es allerdings etwas anders: Es seien vor allem Akademiker und Besserverdiener, welche derzeit an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen, die «Basis schläft zu Hause vor dem Fernseher ein». Es drohe eine Demokratie der Besserverdienenden, gar eine «Oligarchie der Besserverdiener und Besserwisser».
Das ist wahrlich eine Warnung vor «Besserwissern» aus berufenem Munde. Doch warum soll das so schlimm sein? Gemäss Josef Stalin aka. Markus Somm «neigen Akademiker zum Theoretischen, Idealistischen, zuweilen gar zum Irrsinn». Dies ebenfalls eine Warnung aus berufenem Munde.
Der edle Wilde
«Dagegen sind jene, die eine Berufslehre absolviert haben und die Gesetzmässigkeiten des Marktes also aus eigener Erfahrung kennen, die Realisten.» Der edle Wilde trägt Overall oder Ärmelschoner. Durch eine stärkere Beteiligung von Personen mit Berufslehre möchte der Chefredaktor letztlich «unserer oft dadaistisch anmutenden Politik wieder mehr Common Sense verpassen».
Nun verhält es sich mit Hypothesen bekanntlich so: Entweder stimmen sie — oder sie sind falsch. Ist Somms Hypothese falsch, sind Akademiker also gar nicht so abgehoben im Vergleich zu Lehrabgängern, dann fällt diese, und damit auch sein Vorschlag, natürlich in sich zusammen. Ausser Spesen nichts gewesen.
Stimmt hingegen die Hypothese, neigen Akademiker tatsächlich zum Irrsinn — dann müsste diese Charakterisierung in letzter Instanz ja auch auf den Akademiker Somm zutreffen. Sein Vorschlag einer allgemeinen Stimmpflicht wäre dann mithin eben genau das: Theorie, Idealismus — oder gar Irrsinn.
Die grosse Ausnahme?
Kommt er nun mit dem Argument, dass sein Vorschlag eben gerade nicht an den üblichen Krankheiten akademischen Denkens leide, dann schwächt er damit natürlich wiederum seine Prämisse von der Tendenz akademischen Denkens zur Abgehobenheit. Warum soll ausgerechnet er als grosse Ausnahme unter den Akademikern dastehen?
Vielleicht ist das ja wiederum psychologisch zu deuten: Markus Somm versteht sich eben als grosse Ausnahme. Warum sonst würde ihn denn Schawinski — ihn und nur ihn — in seine Radiosendung einladen wollen?
Denn anders kann man die logischen Widersprüche nicht auflösen: Entweder gilt die These von den abgehobenen, lebensunpraktischen Akademikern und trifft damit in all ihren Konsequenzen auch auf den Chefredaktor und seine Vorschläge zu, denen dadurch jeglicher Realitätssinn abgeht — oder die These ist sowieso falsch und damit die Stimmzwang-Idee zum vornherein für die Tonne bestimmt.
Wie man es auch dreht und wendet: Entweder ist Somms Vorschlag empirisch falsch — oder ein Widerspruch in sich. Dadaistisch und mit einem Mangel an Common Sense behaftet ist also nicht so sehr die Politik, wie Markus Somm meint, sondern vielmehr er selbst. Weh tut sein Vorschlag aber alleweil, wenn auch nicht in der Geldbörse, wie von ihm intendiert, sondern eher im Kopf.
Le gauchiste imaginaire
Wenigstens mit einem Gerücht kann man jetzt wohl ein für allemal aufräumen: Dass Markus Somm ehemals ein Linker gewesen sein soll. Ein Gerücht, das nicht zuletzt von ihm selbst als biographische Kuriosität bewirtschaftet wird. Gut verborgenes Analphabetentum ausgeschlossen — worauf beim Vielschreiber nun wirklich nichts hindeutet — hat er Marx wohl eher nicht gelesen als nicht verstanden. So wenig Intelligenz wollen wir ihm hier doch nicht zubilligen.
Marx und die Geschichtstheorie
Marx' Theorie ist in erster Linie ja einmal eine Geschichtstheorie: Diese mag völlig realitätsfern oder gar unsinnig sein — in sich stimmig ist sie aber alleweil. Die Geschichte ist gemäss Marx eine Geschichte von Klassenkämpfen, in deren Fortgang und konstanter dialektischer Umwälzung sich die Produktivkräfte entfalten.
Primat hat dabei das Materielle, das Bewusstsein folgt der materiellen Entwicklung. Oder kurz: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Darum heisst seine Theorie auch «dialektischer Materialismus», während Hegels Theorie als «dialektischer Idealismus» bezeichnet wird, wo der (Welt-)Geist am Ende zu sich selbst zurückfindet. (Böse Zungen sagen: In Hegels eigener Berliner Existenz zu sich selbst zurückfindet.)
Widerspiegelung materieller Umwälzungen
Entsprechend kann Marx seine eigene historische und intellektuelle Existenz wunderbar in seine Theorie internalisieren: Diese ist nämlich bloss Manifestation und Widerspiegelung der zugrundeliegenden materiellen Umwälzungen. Voilà, damit hätte er seine eigene Existenz historisch erklärt, der dadurch nichts Willkürliches mehr anhaftet.
Entsprechend verspottete er die Frühsozialisten, welche die Gesellschaft reformieren wollten und wie ein Deus ex machina auftraten, unfähig die eigene historische Existenz schlüssig zu erklären.
Genau so etwas Ähnliches tut der Chefredaktor hier: Kritisiert die Akademikerkaste, obwohl selber Akademiker — und ist sich dieses Widerspruchs nicht bewusst. Der orthodoxe Linke würde sagen: Es mangelt ihm an historischem Bewusstsein, so wie ehedem den Frühsozialisten, welche auch von aussen die Gesellschaft reformieren wollen, und sich dabei der eigenen Verstrickungen nicht bewusst waren.
So etwas ist in jenen Kreisen geradezu eine Todsünde: Sich der eigenen historischen Existenz bewusst zu sein, ist dort das A und O. Und wenigstens einen Vorteil hat diese Prägung, die man, hat man sie erst einmal verinnerlicht, kaum mehr ablegen kann: Man tappt nicht so einfach in die logische Falle, in die der der Autor mit geradezu rührender Naivität getappt ist.
Somms biographisches Märchen ist und bleibt somit, was es ist: ein Märchen.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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