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Streit um «linken Antisemitismus»

Sind die Linken tatsächlich antisemitisch — oder ist's eher eine Folge der Verehrung linker Säulenheiliger?

Im Gefolge der Terrorangriffe der Hamas auf Israel wird landauf, landab wieder einmal die Frage diskutiert, ob die Linke im Kern antisemitisch sei. Unser Autor wirft einen Blick zurück in die Vergangenheit, der hilft, zu erklären, wie es zur Verbrüderung der Linken mit den Palästinensern kam.

Thomas Baumann am 01. November 2023

Der Sündenfall kam früh und er trug einen bezeichnenden Namen: Böse. Genauer gesagt: Wilfried Böse. Doch alles der Reihe nach.

Der Hauptfeind der Linken ist seit jeher der Kapitalismus. Und da das höchste Stadium (genauer: die letzte Etappe) des Kapitalismus gemäss Lenin der Imperialismus ist, ist der Kampf gegen den Imperialismus damit auch ein Kampf gegen den Kapitalismus.

Daraus erklärt sich der Antikolonialismus der Linken: Gemäss der marxistischen Theorie kann der Kapitalismus nicht überleben, wenn er sich nicht ständig weiter ausbreitet, sich immer neue Absatz- und Ressourcenmärkte erschliesst. Weil er sonst an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen würde.

Erheben sich nun die Länder der dritten Welt, verweigern sie sich dadurch dem Kapitalismus, dass sie die Grenzen des Landes schliessen, koloniale Kapitalbesitzer enteignen und so weiter. Das ist dann in Schlag gegen den Kapitalismus und damit aus linker Sicht zu begrüssen.

Böser Nationalismus, guter Nationalismus

Es gilt also: Nationalismus in der dritten Welt ist gut, da gemäss Theorie in seiner Wirkung anti-imperialistisch und somit anti-kapitalistisch — Nationalismus in der entwickelten westlichen Welt hingegen verwerflich. Die «Antifa» lässt uns ja oft genug wissen, dass alle, die sich nicht einer bedingungslosen Willkommenskultur anschliessen wollen, angeblich «Nazis» seien.

Natürlich kann man sich jetzt fragen: Geschieht denn letztlich nicht genau dasselbe, wenn der gesamte globale Süden in den Kapitalismus des Nordens einwandert, wie wenn sich der Kapitalismus in den globalen Süden ausbreitet? Vermutlich zählt die «Antifa» (Stichwort: «Kein Mensch ist illegal!») in diesem Fall einfach darauf, dass es bei einer Masseneinwanderung zu einer schleichenden Enteignung der Besitzenden kommen werde.

Der linke Terrorismus in Europa

Der blödeste, bornierteste Nationalismus ist somit aus linker Sicht zu begrüssen — solange er nur in den «richtigen» Ländern, das heisst, den Ländern des Süden gehegt wird. Wie kam es nun zur Fraternisierung der Linken mit den Palästinensern?

Die Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts waren die Hochzeit des linken Terrorismus in Westeuropa. Im Gefolge der 1968er-Bewegung radikalisierten sich einzelne Gruppen: Daraus gingen unter anderem die Roten Brigaden in Italien, die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland und die Action Directe in Frankreich hervor.

Terroristische Internationale

Die RAF konstituierte sich im Sommer 1970. Erste «Amtshandlung»: Man begab sich gleich nach der Gründung für zwei Monate in ein Camp der palästinensischen Organisation Fatah in Jordanien zwecks militärischer Grundausbildung. Man wollte sich schliesslich wappnen für die bevorstehenden Kämpfe als «Stadtguerilla».

Diese Zusammenarbeit war von Seiten der Fatah jedoch keineswegs exklusiv. So kooperierte sie auch mit deutschen Neonazis. Der ehemalige Neonazi und spätere Autor Willi Pohl schrieb: «Wir erhielten die Erlaubnis, auf von der Fatah kontrolliertem jordanischem Gebiet einen Stützpunkt zu errichten, als Gegenleistung boten wir Unterstützung im Kampf gegen Israel an.»

Nicht zuletzt leistete dieselbe Neonazi-Gruppe auch Helferdienste beim Münchner Olympia-Attentat, bei dem acht palästinensische Terroristen der Terror-Organisation «Schwarzer September» neun israelische Sportler als Geiseln nahmen und insgesamt elf Mitglieder der israelischen Delegation ermordeten.

Das Jahrzehnt der Flugzeugentführungen

Der zehnjährige Zeitraum von 1968 bis 1978 war ebenfalls die Hochzeit palästinensischer Flugzeugentführungen. Besonders hervor tat sich dabei die «Volksfront zur Befreiung Palästinas» (PFLP), welche quasi im Jahresrhythmus Maschinen entführte. Eines der Markenzeichen bei diesen Entführungen: Die Trennung jüdischer und nichtjüdischer Geiseln.

Wohlgemerkt: Die Trennung erfolgte nicht etwa nach Nationalität, sondern nach Religionszugehörigkeit. Antisemitismus in Reinkultur. Und dabei verstanden sich nicht wenige der Flugzeugentführer selber als Marxisten und Atheisten.

Enge Zusammenarbeit

Die Zusammenarbeit deutscher Linksterroristen mit palästinensischen Gruppen beschränkte sich letztlich nicht darauf, dass deutsche Terroristen den Nahen Osten als Rückzugsgebiet benutzten oder sich dort in Camps militärisch ausbilden liessen, sondern führte auch zu gemeinsamen Operationen — beispielsweise Flugzeugentführungen.

So entführten im sogenannten «Deutschen Herbst» 1977 Mitglieder der PFLP die Lufthansa-Maschine «Landshut» nach Mogadischu, um damit elf in Deutschland inhaftierte RAF-Terroristen aus dem Gefängnis freizupressen. Merke: Palästinensische Terroristen entführten ein Flugzeug ausschliesslich zu dem Zweck, deutsche Terroristen freizupressen.

Die Nacht zum 18. Oktober 1977, in der die deutsche Spezialeinheit GSG9 die Maschine stürmte und die Geiseln befreite, war gleichzeitig die sogenannte «Todesnacht von Stammheim». Als die im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim einsitzende erste Führungsgeneration der RAF vom Scheitern der Entführung erfuhr, schied sie durch kollektiven Suizid aus dem Leben. Nicht ohne dabei den Eindruck zu erwecken, ermordet worden zu sein. Die These vom «Staatsmord» geisterte danach noch jahrzehntelang durch die linke Szene.

Im Jahr zuvor hatten zwei deutsche Terroristen der «Revolutionären Zellen» zusammen mit palästinensischen Terroristen der PFLP eine Maschine der Air France nach Entebbe, Uganda, entführt. Damit sollten sowohl in Israel einsitzende palästinensische Häftlinge als auch in Frankreich, Deutschland und der Schweiz einsitzende westliche Terroristen freigepresst werden.

«Ich bin kein Nazi, ich bin Idealist!»

Den beiden deutschen Terroristen Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann oblag am Flughafen Entebbe dabei die «Selektion» jüdischer oder vermeintlich jüdischer Passagiere. Als ihm dabei ein Holocaust-Überlebender seine eintätowierte Häftlingsnummer zeigte, antwortete ihm Böse: «Ich bin kein Nazi, ich bin Idealist!»

Diese Antwort ist bezeichnend — und sie ist sinnbildlich für die linke Szene damals und in gewissem Sinn auch noch heute. Die Linksterroristen genossen damals in weiten Teilen der jüngeren «intellektuellen» Linken (das heisst, Linke, die nicht der Arbeiterschaft angehörten) Sympathien. Diese damaligen jungen Linken sind die Altlinken von heute.

Es muss nicht einmal unbedingt expliziter Antisemitismus sein: In der Erinnerung der Altlinken sind palästinensische Terroristen einfach die Verbündeten der damaligen, von ihnen insgeheim bewunderten Linksterroristen. Wer das abwegig findet: Die Linke lief damals mit Porträts von Stalin und Mao durch die Strassen, millionenfachen Massenmördern. Dagegen ist eine junge Journalistin wie Ulrike Meinhof geradezu ein friedfertiger Engel. Selbst wenn dieser vermeintliche «Engel» oft genug sein blutrünstiges Gesicht zeigte.

Israel ist keine Kolonialmacht im historischen Sinn

Nach der Devise «Ich kratze deinen Rücken und du mir meinen» setzten sich Palästinenser damals für die «Märtyrer» der Linken in Westeuropa ein — da war es aus Sicht der westlichen Linken doch nur fair, dass man auch den angeblichen «Befreiungskampf» der Palästinenser unterstützte.

Natürlich liess sich der «Befreiungskampf» der Palästinenser nicht im üblichen Schema des antikolonialen Befreiungskampfs verorten. Auch der Linken ist klar, dass Israel keine Kolonialmacht im historischen Sinne ist, sondern ein junger, neu gegründeter Staat, der nicht irgendein Imperium perpetuiert, sondern selbst in gewissem Sinn das Ergebnis eines Befreiungskampfs ist. Tatsächlich genoss Israel nach seiner Gründung auch bei den Linken im Westen viele Sympathien — zumindest solange genossenschaftliche Wohn- und Arbeitsformen in Israel weit verbreitet waren.

Dankbares «Apartheid»-Narrativ

Ein «Befreiungskampf» ohne koloniales Imperium, von dem man sich befreien muss — so ein Phänomen ist nicht einfach zu erklären. Auf diesen theoretischen Erklärungsnotstand ist wohl das hartnäckige Insistieren darauf zurückzuführen, dass Israel ein «Apartheid-Staat» sei. Zum Glück für die sich im Erklärungsnotstand befindliche Linke lieferte Israel mit dem Mauerbau diesem Narrativ dankbare Schützenhilfe. Funktioniert das Antikolonialismus-Narrativ nicht, so kann man sich wenigstens auf das «Apartheid»-Narrativ verlassen.

Natürlich würde ein nüchterner Blick auf die Verhältnisse vermutlich zu Tage führen, dass der durchschnittliche, in Israel lebende Araber wohl mehr Rechte hat, als ein Araber in einem diktatorisch regierten arabischen Land, und letzteres sind mehr oder weniger alle arabischen Länder. Aber vor solchen Feinheiten verschliesst man links eben gerne die Augen.

Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten, warum sich grosse Teile der Linken derart mit der palästinensischen Sache gemein machen, dass sie auch über die bösartigsten antisemitischen Entgleisungen schon beinahe bewusst hinwegsehen: Entweder sind sie tatsächlich in die Wolle gefärbte Antisemiten — oder Opfer ihrer nostalgischen Verehrung für die eigenen linken «Freiheitskämpfer».

Tatsächlich ist schwer vorstellbar, dass viele Linke dumbe, in die Wolle gefärbte Antisemiten sind. Vermutlich ist die Verbrüderung mit den Palästinensern eher der Erinnerung an jene gegenseitige Schützenhilfe geschuldet, welche sich palästinensische und westliche linke Terroristen einst gewährten.

Ob das die Sache viel besser macht, ist eine andere Frage.

(Bild: Depositphotos)

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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