Ostschweizer National- und Ständeräte ziehen Halbzeitbilanz und schätzen die aktuelle Lage ein. Heute: SVP-Nationalrat David Zuberbühler (*1979). Für ihn hat die Corona-Epidemie die Schwächen des Parlaments aufgezeigt.
Wir haben bewegte Zeiten hinter uns. Wie hat sich das Schweizer Politsystem als Gesamtes in dieser aussergewöhnlichen Lage geschlagen bzw. bewährt?
Auf Antrag der Verwaltungsdelegation wurde die Frühjahrsession 2020 kurzfristig abgebrochen. Als einzelner Parlamentarier hatte man auf diesen Entscheid keinen Einfluss. Das ist insofern störend, als dass kurz darauf der Bundesrat das Zepter an sich gerissen und weitreichende Entscheide ohne das Parlament getroffen hat. Die Corona-Epidemie hat folglich die Schwächen des Parlaments aufgezeigt. Wenn wir als Parlament unsere Aufgabe – auch während einer Pandemie bzw. Epidemie – nicht wahrnehmen, dann nimmt die Demokratie auf Dauer schaden. Ich bin klar der Meinung, dass sich die Bundesversammlung in schwierigen Situationen nicht einfach zurückziehen und ihre eigenen Aufgaben und Kompetenzen dem Bundesrat delegieren darf. Solche Delegationsnormen sind verfassungswidrig.
Und welches Zeugnis stellen Sie dem Bundesrat aus?
In der ersten Phase der Corona-Krise war der Bundesrat nicht zu beneiden, schliesslich waren die Auswirkungen des Corona-Erregers wenig bis kaum bekannt. Die per Notrecht angewendeten Massnahmen waren zu Beginn noch irgendwie nachvollziehbar. Nachdem sich relativ schnell herausgestellt hat, dass das Corona-Virus zwar hochansteckend ist, aber in erster Linie für ältere Menschen und für Menschen mit besonderen Vorerkrankungen gefährlich ist, hätte ich von der Landesregierung, die ihre Entscheidungen vielfach nicht auf Evidenz basierend und teilweise sehr mutlos getroffen hat, eine klare wirtschafts- und gesundheitspolitische Strategie und raschere Öffnungsschritte erwartet.
Welcher Aspekte, welches Ereignis war für Sie in der gesamten Corona-Situation wie ein Schlag in die Magengrube?
Die vom Bundesrat mehrmals angeordnete Zwangsschliessung von Läden, Restaurants, Bars sowie Freizeit- und Sportanlagen, welche sowohl der Gesellschaft- als auch der Volkswirtschaft massive Schäden zugefügt haben. Aber auch, dass die Corona-Krise einen Keil zwischen unsere Gesellschaft getrieben hat und viele Mitbürgerinnen und Mitbürger scheinbar eine sachliche, faktenorientierte Diskussion verlernt haben.
Was bleibt für Sie hingegen äusserst positiv in Erinnerung?
Dass ich während der Corona-Krise mehr Zeit mit meiner Familie verbringen konnte.
Woran sollten sich die Wählerinnen und Wähler im grossen Wahljahr 2023 unbedingt zurückerinnern, bevor sie die Wahlzettel ausfüllen?
Dass es auch Politikerinnen und Politiker gab, welche auch in der Krise den Sinn der vom Bundesrat angeordneten Massnahmen stets hinterfragt haben. Dafür sind sie gewählt, und nicht etwa dafür, um einfach die Entscheide der Landesregierung kopfnickend abzusegnen.
Welche Bereiche, in denen dringend Handlungsbedarf besteht, gerieten durch die Corona-Diskussionen eher in den Hintergrund?
Bei meiner Antwort geht es weniger um den Handlungsbedarf, sondern vielmehr um all die Menschen, die während der Corona-Krise an einer Krebs- oder Atemwegserkrankung, an einem Unfall oder unter Gewalteinwirkung gestorben sind. Beziehungsweise um all die Menschen, die sich aufgrund der bundesrätlich angeordneten Zwangsmassnahmen und der daraus folgenden Perspektivlosigkeit das Leben genommen haben. Ich denke aber auch an diejenigen Menschen, die ihre letzten Stunden wegen Besuchseinschränkungen in Kliniken und Pflegeheimen nicht im Kreis von geliebten Menschen verbringen durften. Sie alle gerieten – auch wenn mir jedes Corona-Opfer natürlich sehr leid tut – in den Hintergrund bzw. in Vergessenheit.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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