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Monogamie oder Polygamie?

St.Galler Sexualtherapeutin sagt: «Es ist ein normaler Prozess, dass Sexualität in Beziehungen der Schwerkraft erliegt»

Etwa jede achte Person in einer Zweierbeziehung ist sexuell nicht erfüllt, besagt eine Studie. Ist Monogamie also ein «veralteter Zopf»? Simone Dudle, Sexualtherapeutin in St.Gallen, ordnet ein – und erklärt, weshalb es die «ewigen Schmetterlinge» nicht gibt.

Manuela Bruhin am 16. März 2024

Zwei Menschen lernen sich kennen, verlieben sich, heiraten, und bleiben bis an ihr Lebensende glücklich zusammen. So oder so ähnlich ist auch in der heutigen Zeit das Bild einer glücklichen Beziehung in vielen Köpfen verankert. Eine neue Studie von der Dating-Plattform Gleichklang.de zeigt jedoch ein anderes Resultat. Sie besagt, dass knapp 13 Prozent der Singles keine sexuelle Erfüllung finden können, wenn sie dauerhaft nur Sex mit einer Person haben.

Der Psychologe Guido F.Gebauer schliesst daraus, dass manche Menschen polypartnersexuell orientiert seien, ihnen sexuelle Zufriedenheit mit nur einer Person also gar nicht möglich sei.

Simone Dudle, die Studie zeigt, dass ungefähr jede achte Person in einer Zweierbeziehung nicht sexuell erfüllt wird. Leben wir vielleicht schlicht «falsch»? Oder anders gefragt: Sind Zweierbeziehungen ein «alter Zopf»?

In der Umfrage suchen knapp 13 Prozent der Singles ihr sexuelles und emotionales Glück mit mehreren Menschen. Liebe und oder Sexualität mit verschiedenen Beziehungsmenschen zu leben, ist für einige Menschen eine für sie stimmige Form. Dennoch ist der Wunsch nach einer monogamen Beziehung bei vielen Menschen nach wie vor vorhanden und Zweierbeziehungen werden aktiv gesucht. So werden aber auch kritisch Fragen gestellt: Bin ich in Liebe und Sexualität aktuell – weiter - erfüllt?

Überraschen Sie solche Zahlen? Oder widerspiegeln sie sich mit den Beobachtungen, die Sie in Ihrem Berufsalltag machen?

Nein, die Zahl überrascht mich nicht und sie korreliert mit meiner klinischen Praxiserfahrung. Wir leben in einer Zeit, wo wir selbstbestimmt entscheiden können, wie wir leben wollen. Das gilt auch für die Sexualität und die Liebe. Polyamorie und alternative Beziehungsformen zur Zweierbeziehung werden gesellschaftsfähig und demnach offener diskutiert. Traditionelle Zweierbeziehungen dürfen heute mehr in Frage gestellt werden.

Wenn nicht alle die Erfüllung darin finden: Weshalb halten wir dennoch oftmals an Zweierbeziehungen fest?

Es ist der Wunsch von uns Menschen, in Beziehungen verstanden, berührt, gesehen und gehört zu werden. Der Wunsch ist häufig an Exklusivität geknüpft. Er entstammt einem romantischen Liebesideal. In diesem sind Liebe und Sex untrennbar miteinander verbunden. Lässt die Leidenschaft in einer Beziehung nach, deuten dies viele als Krisensignal: Es stimmt etwas nicht mehr.

Das muss aber nicht so sein?

Nein. Das Leben ist kein dauerhafter Zustand, sondern in Bewegung und ein ständiger Entwicklungsprozess. Es ist normal, dass nach der Verliebtheitsphase die Sexualität und die emotionale Begeisterung der Schwerkraft erliegen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist das Paar gefordert, in die Beziehung aktiv und bewusst zu investieren, egal ob in einer monogamen oder polypartnersexuell orientierten Beziehung. Die Veränderungen können als Chance für Wachstum und Weiterentwicklung genutzt werden.

Wir entwickeln uns ein Leben lang, verändern uns, ändern Ansichten und Möglichkeiten. Wie kann eine langjährige Zweierbeziehung da überhaupt mithalten? Oder ist das Wunschdenken?

Aus der Forschung weiss man, dass es Komponenten gibt, welche eine erfüllte, auch auf Dauer ausgelegte Beziehung in Liebe und Sexualität begünstigen. Dies sind: Präsenz, Verbundenheit, körperliche und emotionale Intimität, emphatische Kommunikation, Risikobereitschaft, Authentizität, Verletzlichkeit und das Gefühl von Transzendenz.

Seit 2014 führen Sie eine eigene Praxis in St.Gallen. Allgemein gefragt: Wie zufrieden sind die Ostschweizerinnen und Ostschweizer mit ihrem Sexualleben?

(Lacht) Ich bin keine Hellseherin. Was ich aber beobachte, ist, dass sich Menschen zunehmend in Beziehungsfragen Unterstützung holen. Sie haben erkannt, dass erfüllende Beziehungen in Liebe und Sexualität keine Frage des Schicksals sind, sondern sie aktiv und selbstverantwortlich in ihr Beziehungsleben investieren können.

Mit welchen Anliegen haben Sie es in Ihrer Praxis zu tun?

Menschen in monogamen oder polyamoren Beziehungen und Singles finden den Weg in meine Praxis, wenn sie mit ihrem aktuellen Sexual- und Liebesleben an ihre Grenzen stossen, Fragen haben und aktiv etwas verändern und entwickeln wollen. Es können emotionale und oder funktionale Beweggründe sein – wie zum Beispiel Lustlosigkeit, zu frühes Kommen, Erektionsstörungen, Orgasmusstörungen oder auch unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse.

Wie hat sich das Schamgefühl in den letzten Jahren entwickelt? Wie gross ist die Hürde der Klientinnen und Klienten, bis Sie den Weg zu Ihnen finden?

Sexualität und Liebe sind ein Grundbedürfnis, wie Essen, Trinken Schlafen. Dadurch, dass dies zunehmend in der Gesellschaft anerkannt und akzeptiert ist, wagen vor allem jüngere Menschen den Schritt in eine Beratung früher. Eine schöne Entwicklung.

Wie können Sie den Menschen helfen, die zu Ihnen kommen?

In Gesprächen begleite ich Menschen bei ihrer individuellen Suche: Was kann einen hilfreichen Unterschied machen, damit es besser wird? So kann zum Beispiel ein Perspektivenwechsel hilfreich sein, eine veränderte Kommunikation, ein erweiterter Bezug zum eigenen Körper und Geschlecht. Für das konkrete Umsetzung im Alltag und das bewusste Experimentieren und Erfahrungen sammeln übernehmen die Klientinnen und Klienten Eigenverantwortung.

Bleiben die Paare länger zusammen, wenn sie sich bei Ihnen Hilfe holen?

Die Frage ist nicht, wie lange Paare zusammenbleiben, sondern wie wollen Paare zusammenbleiben? So kann eine bewusste Entscheidung für eine Trennung auch eine Lösung sein.

Zurück zur Studie: Wird der künftige Weg eher weg von Zweierbeziehungen gehen? Müssen wir künftig alle offener werden?

Zweierbeziehungen werden wichtig bleiben. Dies neben neuen Beziehungsformen. Unter Offenheit verstehe ich hier die bewusste, immerwährende Selbstreflexion: Wie will ich Beziehung(en) leben? Wie will ich sein? Und diese Erkenntnisse auch konkret und transparent in die Liebesbeziehung(en) hineinzutragen. Dies erfordert Mut und birgt auch Risiken. Dann kann Offenheit eine gute Voraussetzung für ein erfülltes Liebes- und Sexualleben sein und Paare stark machen, sowohl in traditionellen Zweierbeziehungen wie auch in polyamoren Lebensformen.

Sie haben gesagt, dass die Liebe das Bindegefühl sucht, die Sexualität das Abenteuer. Wie passt das zusammen?

Dies ist ein Dilemma, dem man in Beziehungen nicht ausweichen kann und welches sich nicht auflösen lässt. Alle Beziehungsformen sind also grundsätzlich aufgefordert, sich mit den natürlichen Veränderungen in der Sexualität und dem Dilemma von Liebe, welche die Beständigkeit sucht und Sexualität, welche das Abenteuer liebt, auseinander zu setzen.

Wie meinen Sie das?

Beziehungen, die sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken, werden sich nach der Verliebtheitsphase mit diesem Dilemma konfrontiert sehen. Unabhängig von der gewählten Form. Es gibt jedoch unterschiedliche Möglichkeiten, wie Menschen mit diesem Dilemma umgehen: Man kann sich trennen und wieder neu verlieben oder sich entscheiden, die Schwerkraft innerhalb der Beziehung zu akzeptieren. Und natürlich kann man auch in der bestehenden Beziehungsform das Dilemma aktiv thematisieren und in der Verbindung neue gemeinsame Wege suchen und finden.

Wir sitzen quasi alle im selben Boot.

Genau. Die Suche nach der Erfüllung in Liebe UND Sexualität ist möglicherweise eine lebenslange Aufgabe. Und auf dieser Suche sind wir eingeladen, uns immer wieder neu zu entdecken und Heimat zu finden.

Simone Dudle veranstaltet, zusammen mit Ihrem Mann Patrik Neff, aktuell das Wochenend-Seminar «Starke Paare unterwegs».

(Bild: Depositphotos/PD)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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