Menschen, die an Inkontinenz leiden, haben laut einer Studie die geringere Lebensqualität als Krebskranke. Weshalb wird das Thema totgeschwiegen, wenn in Europa bis zu 20 Prozent aller Menschen an Harninkontinenz leiden? Ein Vortrag in St.Gallen möchte Abhilfe leisten.
In der heutigen Zeit wird (zu) vieles nach aussen getragen: Bilder in OP-Nachthemden, der Trotzanfall des Nachwuchses, die feuchtfröhliche Runde am Wochenende, die Geburt des eigenen Kindes. Kaum eine Hemmschwelle ist zu gross, um sie mit der Öffentlichkeit zu teilen. Dies gilt aber nicht für alle Bereiche – so widersprüchlich sich das vielleicht anhören mag. Es gibt gewisse Bereiche, die nach wie vor ein Tabu darstellen. Inkontinenz gehört dazu.
Keine Kontrolle
Die Wenigsten möchten über Blasenschwäche reden – oder noch schlimmer, Ausscheidungen, die sie nicht zurückhalten können. «Zum Grosswerden gehört, seine Ausscheidungen kontrollieren zu können. Wer das nicht mehr schafft, fühlt sich ohnmächtig und oft ins Kleinkindalter zurückversetzt», sagt Karin Kuhn, Geschäftsführerin von der Schweizerischen Gesellschaft für Blasenschwäche. «Betroffene haben Angst, nicht mehr ernst genommen zu werden, wenn die Ausscheidungsorgane nicht mehr kontrolliert werden können.»
Zudem werde das Thema auch in den Medien zu selten aufgenommen, was ebenfalls zur Tabuisierung beitrage. Wie gross der Leidensdruck der Betroffenen ist, verdeutlicht eine Studie, welche besagt, dass Betroffene mit Inkontinenz eine geringere Lebensqualität als Menschen mit Diabetes und Krebs haben.
Psychische Probleme
Laut Kuhn sind die Folgen einer unbehandelten Inkontinenz teilweise gravierend. Betroffene würden ihre Erkrankung verheimlichen, ziehen sich zurück, schränken sich ein – bei sozialen Kontakten, im Beruf, beim Sport oder der Freizeit. «Die Patientinnen und Patienten isolieren sich oft, weil sie Angst haben, sich unterwegs plötzlich einzunässen. Die Angst ist sehr real, ständig präsent, und das gesamte Leben und damit die Lebensqualität der Patienten wird dadurch massiv eingeschränkt», sagt Kuhn. «Dies kann zu sozialer Isolation, Depression und vielen weiteren psychischen Problemen führen. Auch Liebesbeziehungen kann sie beinträchtigen, da Betroffene Intimität oft meiden oder eher mit Angst als mit Freude betrachten.»
Viele Ursachen
Verschiedene Faktoren können zu einer Inkontinenz führen – beispielsweise dann, wenn die Beckenbodenmuskulatur nach einer Schwangerschaft und Geburt geschwächt oder verletzt ist. Aber auch chronischer Husten, Rauchen, Übergewicht, eine angeborene Bindegewebeschwäche, chronische Harnwegsinfekte, hormonelle Veränderungen in der Menopause, eine erschwerte Blasenentleerung bei vergrösserter Prostata oder bei neurologischen Grunderkrankungen sind Ursachen von Inkontinenz.
Steigende Zahlen
Zwischen zehn bis 20 Prozent aller Menschen in Europa leiden unter Harninkontinenz. Bei den über 40-Jährigen ist bereits jeder Sechste betroffen – insgesamt rund 46 Millionen Menschen, Frauen doppelt so häufig wie Männer. Allein in der Schweiz leiden über eine halbe Million Menschen jeden Alters unter Urin- und Stuhlinkontinenz. Und die Zahlen werden weiter zunehmen, so Kuhn. «Je älter wir werden, desto grösser ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir beispielsweise unsere Blase nicht mehr so kontrollieren können, wie in jungen Jahren.»
Nötige Therapie
Viele leiden still und nehmen ihre Krankheit als «gegeben» an. Das müsste jedoch nicht sein. Denn: Es gibt unterschiedliche Behandlungsmethoden. «Wichtig zu wissen ist, dass es verschiedene Formen von Blasenschwäche gibt, verschiedene Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten. Die zwei häufigsten Formen sind die Belastungsinkontinenz sowie die hyperaktive Blase», sagt Kuhn. «Mit einer auf den Betroffenen zugeschnittene adäquate Therapie kann Inkontinenz unabhängig vom Alter, Mobilität und vielen anderen Zuständen oft geheilt, meist gebessert, aber immer gemanaget werden.»
Veranstaltung in St.Gallen
Damit das Thema nicht mehr totgeschwiegen wird, veranstaltet die Schweizerische Gesellschaft für Blasenschwäche einen Vortrag in St.Gallen (Am Donnerstag, 29. Februar ab 18.30 h in einer kostenlosen Publikumsveranstaltung im Kantonsspital St.Gallen). Man habe diese Publikumsveranstaltungen in den vergangenen Jahren in diversen grossen Schweizer Städten bereits durchgeführt. «Der Zulauf war bei den Veranstaltungen immer sehr gross. Obwohl hier über ein Tabuthema gesprochen wird, kommen immer sehr viele Betroffene», sagt Kuhn weiter.
Spenden finanzieren Gesellschaft
Und auch die Öffentlichkeit kann dazu beitragen, dass der stille Leidensdruck der Betroffenen kleiner wird. «Wenn wir das Problem, losgelöst von der Thematik «Ausscheidungen» ansehen und erkennen, dass hier beispielsweise die Blase als körperliches Organ nicht mehr richtig funktioniert, können wir das besprechen, ohne dass es zu einem Tabuthema wird», so Kuhn. «Schön wäre es auch, wenn unsere Gesellschaft von Bund oder Kanton unterstützt würde, damit wir noch mehr Öffentlichkeitsarbeit machen könnten.» Seit ihrer Gründung im Jahr 2001 finanziert sich die Gesellschaft nämlich nur über Spenden.
(Bild: Depositphotos/PD)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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