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War früher doch alles besser?

Waldmeyer und die Grenzen der Smart Society (Teil I)

Die Digitalisierung ist nichts anderes als die grösste Industrialisierung seit Menschengedenken. Die Dampfmaschine, die Elektrifizierung, die Automatisierung etc. – alles ein Klacks. Und nun steht die letzte Ausprägung dieses Vorganges an.

Roland V. Weber am 22. Oktober 2021

Das Ganze macht nämlich auch vor Max Waldmeyer nicht halt. War früher doch alles besser? Aber dazu später.

Nun werden wir also Zeitzeuge eines Vorgangs, der in Sachen Geschwindigkeit und Wandel alles Bisherige in den Schatten stellt. Es ist ein Umbruch, welcher die ganze Gesellschaft erfasst. Und eben auch Waldmeyer. Er hatte mit Charlotte soeben im Trois Couronnes eingecheckt und studierte die digitalen Gadgets im Zimmer. Es gab sogar ein Gas-Cheminée, welches elektronisch kontrolliert werden konnte. Licht, Musik, Verdunkelung – alles smart.

Die erste Hürde war das W-LAN: Das Passwort war extra so konzipiert, dass es möglichst kompliziert war und – wie so oft – vorsätzlich gemeine Stolpersteine aufwies. Es waren beispielsweise Nullen und „O“s eingebaut, damit man diese verwechselt. „Herr Waldmeyer, ich kann Ihnen leider keine Auskunft geben, ich schicke Ihnen den IT“, säuselte die Stimme von der Reception. Der IT kam rasch, es dauerte genau 22 Minuten und klärte auf: „Das sieht man ja ganz klar, die drei „O“s sind Zahlen“. Ganz klar.

Während Charlotte im Bad nun versuchte, mit der Beleuchtung klarzukommen, wollte Waldmeyer kurz in diese Segel-Regatta reinschauen. Es gab drei Fernbedienungen für den Fernseher. Alle lagen sauber und parallel ausgerichtet neben dem X-Large Bildschirm. Waldmeyer probierte alle – auch in Kombination. Er schaffte es nicht.

Wieder gut 22 Minuten später – Charlotte suchte immer noch nach der besten Lichtkombination im Bad – musste der IT (auf seinem Namensschild stand IT – Krasnowskyschiri), ein sichtlich entnervter Nerd mit einem Tablet, nochmals antreten und die drei Fernbedienungen erklären. Es war ganz einfach. Klar.

Die restlichen Funktionen im Hotelzimmer entdeckte Waldmeyer in der folgenden Stunde. Nach einigem Suchen fand er auch ein Tablet im Zimmer, mit dem er – nach kurzem Login – in einem Unterprogramm die Funktion für die elektrischen Vorhänge entdeckte. Es war jedoch Charlotte, welche die Funktion der Sonnenmarkisen aufstöberte – nicht in einem Unterprogramm, sondern in der Szenarien-Funktion „Terace Living“. Ja, ein „r“ fehlte bei Terrace, schade. Waldmeyer gelang es auch, im Nu die Minibar zu öffnen, man musste nur den dafür vorgesehenen Login und eine Handvoll persönlicher Daten eingeben und die Datenschutzvereinbarung akzeptieren. Mit den 12 Kissen auf dem Bett kam Waldmeyer indessen nicht ganz klar, obwohl hier für einmal eine ganz analoge Aufgabe anstand. Aber das war ihm eh einerlei.

Nach dem Diner (bis auf die Weinkarte verlief alles ganz angenehm analog), um genau 23:35, musste Waldmeyer leider zum dritten Mal den IT rufen. Diesmal den Nacht-IT, denn Lichterlöschen stand an. Die ganze Zimmerbeleuchtung war nämlich in Szenarien und Ambiancen strukturiert, Waldmeyer fand aber die Schlaf-Funktion nicht (früher: dunkel – oder einfach Licht aus); verschiedene indirekte Dimm-Beleuchtungen liessen sich nämlich nicht ausschalten. IT Nummer drei redete mit Waldmeyer wie mit einem Kind: „So, das hätten wir jetzt auch, Herr Waldmeyer, jetzt können Sie ruhig schlafen. Ich muss jetzt weiter, es warten noch andere Gäste, im Fall!“ Klar.

Waldmeyer fand dies alles soweit ganz amüsant, vor allem, als er die Kosten für die drei ITs und deren 24-Stunden-Service kurz überschlug. Er überlegte sich, wie der General Manager vor dem Verwaltungsrat die explodierenden IT-Kosten wohl rechtfertigen würde. Zum Beispiel so: „Die Digitalisierung macht auch vor der Hotellerie nicht halt; um diese Ausgaben kommen wir nicht herum, es sind Investitionen in die Zukunft. Und der neue Gästetyp verlangt das einfach.“ Oder ähnlich. Würde er, Waldmeyer, also nicht mehr zur Kernzielgruppe eines ordentlichen Hotels gehören? Offenbar nicht.

War früher alles besser?

Die Einführung des Farbfernsehers zum Beispiel. Diese Revolution war nämlich überblickbar. Dann kam die Fernbedienung: in der Regel lernbar. Aber jetzt diese Zäsur, dieser Quantensprung: Das ganze Leben findet nur noch in sequenziellen Logins statt. Anstatt Schalter zu drehen, zu kommunizieren oder die Tageszeitung in Papierform zu geniessen, machen wir nun stundenlang Logins. Brave, new world.

Waldmeyer lief es kalt den Rücken runter, er dachte ans nächste Wochenende. Denn dann stand Büroarbeit an. Eigentlich Login-Arbeit. Büroarbeit besteht heute nämlich zu 90% aus Logins. Waldmeyer wusste schon jetzt, dass es ein Fiasko werden wird. Aber dazu eben später, in einem nächsten Beitrag.

Die Cheminée-Funktion brachte Waldmeyer im Übrigen nicht zum Funktionieren. Die drei Fernbedienungen liess er ebenso liegen. Doch Waldmeyer ist eine lösungsorientierte Spezies. „Selbst ist der Mann“, dachte er sich und schaute mit Charlotte die 99. Folge von 24 Hours auf dem Laptop an. Es funktionierte einwandfrei.

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Autor/in
Roland V. Weber

Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.

Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.

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