Das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 sollte gerade jungen und mit aktuellen Problemen beschäftigten Leuten von heute zu denken geben.
Ja, es ist schon eine Weile her: Vor genau 75 Jahren läuteten in der ganzen Schweiz die Kirchenglocken. Nach jahrelanger Agonie und 55 Millionen Menschenopfern war der Albtraum des «tausendjährigen Reiches», das dann doch nur zwölf Jahre dauerte, zu Ende. Nur: War er das? War das der sehnte Frieden? Dann könnten meine Leser sich getrost aktuelleren Themen zuwenden. Wir schreiben schliesslich das Jahr 2020 und haben andere Probleme. Wozu also diese alten Geschichten? Überhaupt: Wozu Geschichte?
In einer Zeit, in der sich Entwicklungen überstürzen, mit denen wir kaum Schritt halten können – ist es da nicht überflüssig, sich auch noch mit der Vergangenheit zu beschäftigen? Die haben wir schliesslich hinter uns. Aber das ist ein Irrtum, und wer daran glaubt, lebt gefährlich. Er wird auf seinem Weg immer wieder überrascht von unerwartetem Gegen- und Seitenwinden, die ihn vom Weg abbringen können.
Einer der hellsten Köpfe unter den Schweizer Historikern, Herbert Lüthy, hat es einmal so zusammengefasst: Zu «wissen, wie es einst gewesen» ist, das könnten wir uns zur Not ersparen. Aber zu «wissen, wie es gekommen ist, das können wir uns nicht ersparen, ohne uns selbst mit moralischer und physischer Blindheit zu schlagen.» Mit anderen Worten: Wer den Kopf nicht über die Wellen der Gegenwart hinaus erhebt, über dem schlagen womöglich plötzlich die ganz grossen Wellen zusammen, die er nicht erwartet hat. Tatsächlich: Wie viele sogenannte «Gespenster der Vergangenheit» haben uns nicht schon wieder eingeholt? Oder, schlimmer noch: könnten uns in naher Zukunft einholen? Wer hatte die Pandemie auf der Rechnung? Wer das Wiedererstarken der Neonazis? Den anschwellenden Widerstand gegen das Impfen, gegen Fernmelde-Antennen (Stichwort 5G), den massenhaften Zulauf zu sektiererischen und esoterischen Bewegungen? Weitere unliebsame Überraschungen, darauf kann man sich verlassen, warten schon um die Ecke…
Herbert Lüthy, von dem leider nur noch wenige um seine Beziehungen zu St.Gallen und zum St.Galler Tagblatt wissen (er verfasste dort von 1942 bis Dezember 1944 eine intellektuell brillante und landesweit beachtete «Kleine Wochenschau»), würde heute mit Sorgenfalten auf die stets schwindende Bedeutung der Geschichte in Bildung und Politik blicken. Zum Beispiel auf moralisch aufgeladene Begriffe wie Nazi, Faschismus, Rechtsextremismus in den Debatten der Gegenwart, in denen es fast nie um Erkenntnis, sondern nur um Kampf und politische Diffamierung geht.
Bereits 1945 notierte Lüthy: Wenn ein Deutscher nun sage, es sei «eine Schande, ein Deutscher zu sein», dann sei das ein verheissungsvolles Zeichen der inneren Erschütterung, der Besinnung und des Willens, die Schande auszulöschen. Von einem Nichtdeutschen ausgesprochen, offenbare der Satz nur «trostlos inferiores Pharisäertum». Der im Lauf der Zeit immer mutiger gewordene Schreibtisch- und Redepult-Antifaschismus, den wir heute erleben, ist zur Keule im politischen Getümmel geworden – geschwungen gerne auch von Angehörigen einer jüngeren Generation, die bisher eher wenige Schweisstropfen auf die Erkenntnis vergossen haben, wie es denn zum unseligen Dritten Reich gekommen ist. Da besteht Nachholbedarf.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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