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Gastkommentar zu den Nationalratswahlen

Wen kann man noch wählen, wenn man Individualfreiheit liebt?

Die Covid-Phase wäre eine gute Gelegenheit gewesen, zu erkennen, wie wichtig es ist, staatliche Macht zu begrenzen – und damit das Establishment herauszufordern. Betrachtet man nun die Kandidatenauswahl für den kommenden Oktober, stellt man fest: Die Chancen wurden nur teilweise genutzt.

Artur Terekhov am 23. September 2023

Schon weit vor Corona stand fest: Innerhalb der bürgerlichen Grossparteien SVP und FDP brodelt es intern bisweilen stark. Der Autor dieses Beitrags bekam dies aus erster Hand mit, als er 2014 als (damals parteiloses) Komiteemitglied an der Lancierung der nationalen No-Billag-Initiative beteiligt war.

Wie viel Etatismus es intern bisweilen gebe, musste er sich von vielen (ähnlich gesinnten) Jungpolitikerinnen und Jungpolitikern anhören. Seine persönliche Erfahrung bestätigte dies, denn später war der Schreibende für zwei Jahre Mitglied der SVP, wobei er diese angesichts von Law-and-Order-Etatisten im Zuge der Covid-Phase dankend wieder verliess.

Dem Nachtwächterstaat verpflichtet

Jenem Gedankengut aus der No-Billag-Zeit – Minimal- bzw. Nachtwächterstaat, der Verletzungen von Individualrechten ahndet und sich im Übrigen aus dem Privat- und Wirtschaftsleben des Einzelnen raushält – ist der Autor dieser Zeilen hingegen bis heute verpflichtet. Und er fragt sich, warum es noch immer keine ernstzunehmende dritte Kraft im bürgerlichen Lager gibt, welche konsequent für wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit einsteht – und nicht nur dort, wo es einem gerade passt.

Die Betonung liegt auf dem Wort «ernstzunehmend», denn trotz aller weitverbreiteten Staatsgläubigkeit hätten liberal-libertäre Ideen ein Wählerpotential von 10-15 Prozent. Und hiervon sind wir meilenweit entfernt.

Die Libertäre Partei, welcher einige SVP- und FDP- Mitglieder im Sinne einer Doppelmitgliedschaft angehören, kam im Oktober 2019 im Kanton Zürich auf einen Wähleranteil von minimalen 0,07 Prozent. Ein Wille, jenes Resultat im kommenden Oktober signifikant zu verbessern, war für den Autor nicht spürbar, weshalb er sich kürzlich zum Austritt auch aus jener Kleinstpartei entschied.

Freiheitliche Kraft fehlt

Doch genug des Autobiografischen. Ziel dieses Beitrags soll nämlich sein, Gründe zu finden, warum eine wirklich – und nicht nur selektiv – freiheitliche Kraft mit ernstzunehmendem Wähleranteil in der Schweiz noch immer nicht existiert, und dabei andererseits auf die seit Corona neuen politischen Gruppierungen einzugehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Klar ist zunächst: Wer politisch auf nationaler Ebene angekommen ist, ist oftmals kein Milizpolitiker im eigentlichen Sinne mehr und muss daher auch aus finanziellen Gründen um die Wiederwahl bangen. Hinzu kommen lukrative Nebenämter für linke oder bürgerliche Lobbyorganisationen, allenfalls noch ein Vorstands-, Verwaltungs- und Stiftungsratsmandat.

Es erstaunt daher wenig, dass bei der SVP die Wirtschaftsfreiheit dort aufhört, wo es um Agrarpolitik geht. Und da reden wir nicht von lebenswichtigen Gütern, die man im Sinne einer Landesversorgung für Krisenzeiten auch aus minimalstaatlicher Sicht in engen Schranken befürworten könnte. Sondern auch von grosszügigen Subventionen für Wein- und Tabakbauern, um das staatlich verteilte Geld am anderen Ende der Konsumkette wieder mit Alkohol- und Tabaksteuern reinzuholen.

Dem Staat geht es kaum um die Gesundheit

Wobei dieser Unsinn zeigt, dass es dem Staat dabei kaum um unsere Gesundheit geht. Ebenso wenig erstaunt, dass in der FDP die Privilegien der Banken- oder Pharmabranche oftmals einen höheren Stellenwert haben als die Wirtschaftsfreiheit. Die Nähe vieler bürgerlicher Politiker zum Gesundheitssektor dürfte denn auch in Covid-Zeiten ein wesentlicher Grund gewesen sein, warum Impfbevormundung nicht nur in linken Kreisen «en vogue» war.

Hinzu kommt jedoch eine weitere Folge des Strebens nach einer Wiederwahl der Berufspolitiker: Nicht besonders aktuelle oder dringende Themen werden nach hinten verschoben: Das heisse Eisen sollen andere anpacken, wenn es soweit ist. Hierzu gehört allem voran die Altersvorsorge, deren Zukunft in den bürgerlichen Parteien hochstrittig ist.

Insbesondere bei der Steuerreform- und AHV-Finanzierungsvorlage von 2018 hat sich dies gezeigt: SVP und FDP grösstenteils dafür, die JSVP dagegen, der Jungfreisinn gespalten. Abgesehen von solchen unvermeidbaren Abstimmungen wird das Thema Altersvorsorge allerdings tunlichst gemieden.

Die 1. Säule ist gescheitert

Nur hinter vorgehaltener Hand wird teils gesagt, was ökonomisch kaum bestreitbar ist: Nämlich, dass mit Blick auf die demografische Entwicklung – tiefere Geburtenraten seit Jahrzehnten – die 1. Säule als gescheitert bezeichnet werden muss, wobei dieser Trend durch den Wohlstandsverwahrlosungshype der Teilzeitarbeit aus «Work-Life-Balance-Gründen» (auch durch Personen ohne Kinderbetreuungspflichten) nochmals verstärkt wird. Denn wie will man mit 60 bis 80 Prozent Einkommen 100 Prozent der Altersrenten finanzieren?

Alle diese Fragen wären drängend, gelangen aktuell aber nicht auf das politische Parkett. Soweit ersichtlich, haben sich auch die covid-massnahmekritischen Gruppierungen Aufrecht oder Mass-Voll jener Thematik nicht angenommen. Was nicht erstaunt, denn auch in jenen Kreisen gibt es (neben bemerkenswert freiheitlichen Geistern wie dem Zürcher Gastrounternehmer Remko Leimbach, der für Aufrecht auf Listenplatz 2 kandidiert) durchaus Personen, die primär impfkritisch sind, im Übrigen aber bessere Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal fordern, ohne zu erkennen, dass Geld nicht an Bäumen wächst, womit ein extensives «Deficit Spending» letztlich ein Bumerang für jeden Einzelnen ist. Statt eines angeblichen Klimanotstands wäre sinnvollerweise eher ein AHV-Notstand auszurufen.

Die zwischenmenschlichen Aspekte

Neben Lobbyeinflüssen und dem menschlichen Verdrängen nicht aktueller Probleme ist überdies auch noch auf einen dritten Faktor einzugehen, nämlich zwischenmenschliche Aspekte. Die mehrfachen Rücktrittswellen bei den Freunden der Verfassung sowie die Tatsache, dass es zwischen Mass-Voll und Aufrecht in der jüngeren Vergangenheit einige Dispute gab, wurden in den Medien bereits breit thematisiert. Es erübrigt es sich, nochmals im Detail darauf einzugehen.

Hierzu nur so viel: Mögen bei den Wahlen stetiger Arbeitseinsatz und Dossierfestigkeit – in Privatwirtschaft und Politik – stärker belohnt werden als blosse Medienpräsenz. Es wäre jedenfalls wünschbar, die Debatte würde bisweilen in der Sache prinzipientreuer und härter, zwischenmenschlich jedoch respektvoller geführt. Auch in die Kategorie Personelles fällt schliesslich der Umstand, dass bürgerliche Parteien fast immer weniger weibliche Kandidierende haben, als dies im linken Spektrum der Fall ist.

Dabei ist Eigenverantwortung keinesfalls Männern vorbehalten und abgesehen von vereinzelten Themen wie Mutterschaftsurlaub wäre es auch verfehlt, pauschal anzunehmen, Frauen seien politisch grundsätzlich oder statistisch linker. Wenn aber bei der Libertären Partei, die sich stets klar gegen die Covid-Massnahmen positioniert hat, im Kanton Zürich mit Nadja Gassmann auf Listenplatz 2 die einzige kandidierende Frau eine National Sales Managerin in einem Pharmaunternehmen ist, löst dies natürlich einige Fragezeichen aus.

Mami und Familienfrau

Ähnliches gilt für Berufsbezeichnungen wie «Mami», «Familienfrau» oder – sic! – «Familienmanagerin» bei anderen Zürcher Nationalratskandidatinnen. Es fragt sich, ob man sich dadurch nicht selber darauf reduziert, worauf man hoffentlich nicht reduziert werden möchte, ansonsten man sich kaum in der Alphatierdomäne Politik bewegen würde. Anzumerken ist immerhin, dass mit Tobias Weidmann sich auch ein SVP-Exponent – als einziger männlicher Kandidat im ganzen Kanton Zürich – explizit als «Familienvater» bezeichnet, wobei der Mehrwert dieser Nennung unklar bleibt.

Soweit zur aktuellen Bestandesaufnahme. Lobbyismus wird es immer geben und ist als Interessevertretung auch keineswegs negativ, solange er nicht bewirkt, dass jemand sich gegen die eigenen Überzeugungen verbiegt. Das Risiko solchen Opportunismus’ liesse sich im Übrigen durch eine Senkung der Parlamentariergehälter stark reduzieren, würden so doch Fehlanreize zugunsten eines Berufspolitikertums gesenkt.

Noch grösseres Potential für Veränderungen birgt aber das Pulverfass Altersvorsorge. Die entsprechenden Probleme, die nur mit einer radikalen Stärkung der Eigenverantwortung zu lösen sind, lassen sich nicht mehr unbeschränkt aufschieben. Zu hoffen ist, dass insbesondere die heutige Junggeneration (U40) dereinst erkennt, dass der Staat unsere Probleme nicht besser lösen kann als wir selber. Diese Einsicht könnte sodann Geburtsstunde der vorerwähnten wirklich freiheitlichen Kraft neben SVP und FDP sein.

(Symbolbild: Depositphotos)

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Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

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