Das Jahr 2023 ist nicht geeignet für launige Reminiszenzen eines Kolumnisten.
Aber auch mit einer Aufzählung der Katastrophen, die über unseren Planeten hereingebrochen sind, ist dem aufmerksamen Medienkonsumenten wenig geholfen. Er kennt sie ja. Weil er nicht zur wachsenden Zahl von Zeitgenossen gehört, welche inzwischen die Entgegennahme von Informationen über den aktuellen Zustand der Welt verweigern. Die nimmt übrigens laufend zu: 43 Prozent der Schweizer Bevölkerung sollen keine News mehr zur Kenntnis nehmen.
Übertriebene Demut wegen schwindenden Publikums war aus den Medien bisher nicht zu vernehmen. Im Gegenteil: Je verwirrender die Zeiten, desto lauter die Töne. Was natürlich auch mit dem unsicheren ökonomischen Boden zu tun hat, auf dem diese Medien stehen: Der Umbau zum digitalen Mediensystem 2.0 lässt die Erträge schrumpfen. Eine Umkehr ist nicht in Sicht. Da führt der Kampf um Aufmerksamkeit schnell einmal zu schrilleren Tönen.
Sich nicht mehr zuhören: Das wäre in normalen Zeiten schon eine beunruhigende Erosion des «Selbstgesprächs der Gesellschaft», wie Niklas Luhmann das Mediensystem bezeichnet. Es sind aber keine «normalen Zeiten», die wir erleben. Sondern ein beängstigendes Szenario von Kriegen und Katastrophen, nicht mehr weit entfernt von dem, was man pathetisch als Weltenbrand bezeichnet: Da wäre, im wörtlichen Sinn, das sich erwärmende Klima zu nennen. Russlands Angriff auf die Ukraine, der sich mit seinen monströsen Menschenopfern à la Verdun immer mehr zum erbitterten Kampf gegen den Westen überhaupt entwickelt. Der von der Weltöffentlichkeit fast unbemerkte und unkommentierte Überlebenskampf Armeniens, des ersten christlichen Staates der Geschichte. Und schliesslich der x-te und seit einem halben
Jahrhundert mörderischste Versuch der Hamas, das Pulverfass im Nahen Osten endgültig zum Explodieren zu bringen mit dem Ziel, den Staat Israel auszulöschen. Von den latenten Spannungen im Weltgefüge nicht zu reden.
Und was bewegt die europäische, und mit ihr die Schweizer, Öffentlichkeit inmitten dieser Brandherde rundherum? Nicht allzu viel. Nichts Grundsätzliches. Der Staatsapparat kommt zwar an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit und soll doch immer mehr zusätzliche Leistungen übernehmen, vom Menstruationstampon bis zur Geschlechtsanpassung per Krankenkasse. Eine junge Generation mit zu- nehmenden psychischen Problemen und riesigem Therapiebedarf. Klimapolitik? Renovieren, sonst wird geklebt! Kurz: eine Gesellschaft aus lauter selbstbezogenen Bubbles, in der alle immer lauter «Ich, Ich, Ich» rufen und sich immer weniger um das Ganze kümmern. Wir betreiben Nabelschau im aufziehenden Weltenbrand.
Das Dreivierteljahrhundert ohne Krieg, Hunger und Leid, das hinter uns liegt, hat uns nicht gut getan. Martin Luther sagte vor genau 600 Jahren zum ersten Mal, was Goethe später in den berühmten Vers goss, dass sich in der Welt alles ertragen lasse, «nur nicht eine Reihe von schönen Tagen». Luther schrieb 1523: «Die Welt (…) kann gute Tage und Wohlfahrt nicht ertragen, sie hat zu schwache Beine dazu.» Quod erat demonstrandum.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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