Der St.Galler Bischof Markus Büchel räumt in einem Brief an die Gläubigen ein weiteres Mal die Schuld der Kirche an den Missbrauchsfällen ein. Er findet deutliche Worte und ruft zu einer Erneuerung der Kirche auf. Wie glaubwürdig ist seine Botschaft? Eine Einordnung.
Der Bischof von St.Gallen, Markus Büchel, hat sich am Wochenende in einem Brief an die Gläubigen zu den aktuellen Herausforderungen der Kirche und der Welt geäussert. Der Brief wurde in den Gottesdiensten des Bistums verlesen.
Büchel spricht von einer «Zeitenwende», die sowohl politische als auch kirchliche Veränderungen erfordere. Er bekennt die Schuld der Kirche an den Missbrauchsfällen, die durch eine unabhängige Studie der Universität Zürich aufgedeckt wurden, und fordert eine Erneuerung der Kirche, die auf dem Geist Gottes, der Zuwendung zu den Menschen und der Teilhabe der Glaubenden beruhe.
«Beten Sie auch für mich»
Ausdrücklich dankt der Bischof allen, die trotz der Krise der Kirche treu blieben und sich für das Evangelium einsetzten. Er bittet um Gebet für die Opfer von Unrecht und Krieg, aber auch für sich selbst und für die ganze Kirche: «Beten Sie auch für mich als Ihrem Bischof – so wie ich für Sie alle bete und um Gottes Segen bitte.»
Der Brief des Bischofs ist ein Versuch, die Gläubigen in einer Zeit der Verunsicherung und des Misstrauens zu ermutigen und zu stärken. Er zeigt aber auch, dass die Kirche noch einen langen Weg vor sich hat, um die systemischen Mängel zu beheben, die den Missbrauch begünstigt haben.
Täter geschützt und Opfer ignoriert
Die Studie der Universität Zürich hat gezeigt, dass die Kirche die Täter geschützt und die Opfer ignoriert hat. Der Bischof gesteht zwar die Schuld der Kirche ein, nennt im Brief vorerst aber keine konkreten Massnahmen, wie die Kirche die Aufarbeitung und Prävention des Missbrauchs verbessern möchte. Er appelliert an die Gläubigen, die Kirche nicht zu verlassen, und anerkennt auch die berechtigten Forderungen nach mehr Gleichstellung, Dialog und Reformen. Ohne aber aufzuzeigen, wie und wann die Kirche dahin zu kommen gedenkt.
Büchel schreibt: «Zur Kirche, wie das Zweite Vatikanische Konzil sie gedacht hat, sind wir aber immer noch unterwegs – zu einer Kirche also, in der die Gleichstellung von Mann und Frau, die echte Teilhabe der Glaubenden, die Menschenrechte und der Dialog selbstverständliche Inhalte und Praxis sind.» Noch immer würden diese Grundsätze und Haltungen in der Kirche «nur ansatzweise verwirklicht» und drückten sich zu wenig in den eigenen Strukturen aus.
Eher pastoral denn politisch
Alles in allem ist der Brief des Bischofs eher als pastorale denn als politische Botschaft zu verstehen, die die Gläubigen trösten, an dieser Stelle aber auch nicht zu stark herausfordern will. Ebenfalls durchdringt die Zeilen ein gewisses Mass an Ratlosigkeit seitens des Bischofs angesichts der schieren Masse an Elend, mit der die Kirche - teils selbstverschuldet - konfrontiert ist.
Das macht den Brief und die Stimme des Bischofs wohltuend authentisch. Was im Fall von Bischof Markus wohl den Zorn vieler auf die Kirche, von der sie sich betrogen fühlen, ab und an etwas zu besänftigen vermag.
Hier der Brief im Originaltext:
Bischofsbrief 2024: «Vertrauen in der Zeitenwende»
Liebe Mitchristinnen und Mitchristen
Zu Beginn des Jahres 2023 war das Wort «Zeitenwende» in aller Munde. Mit dem Ukrainekrieg haben sich die Machtverhältnisse in der Welt verschoben. Gegen Ende Jahr brach der Krieg im Nahen Osten aus. Dazu kommen all die weiteren Konflikte und Nöte auf allen Kontinenten der Welt. Sie treiben Menschen in Hunger und Leid und lösen eine kaum zu bewältigende Flücht-lingsnot aus. Und sei die Solidarität noch so gross, er-scheint sie uns wie ein Tropfen auf den heissen Stein. Wir reagieren mit Ohnmacht, mit Angst und Verunsiche-rung. Wie können wir so mit Zuversicht ins neue Jahr starten?
In dieser schmerzlich erfahrenen «Zeitenwende» sehnen sich Menschen nach Orientierung und Halt. Politik und Wirtschaft können die Zukunftssicherheit nur bedingt gewährleisten. Gefragt sind Institutionen wie Religion und Kirche, die auch in schwierigen Zeiten Halt und Sinn schenken. Gefragt ist vor allem unser christlicher Glaube mit dem Auftrag, Hoffnung und Freude, Trauer und Angst mit den Menschen zu teilen und helfend zur Seite zu stehen. Aber, mit Blick auf die letzten Monate fragen wir zurecht: «Haben wir als Kirche dieses Vertrauen und diese Glaubwürdigkeit noch»? Mit der Veröffentlichung der Pilotstudie über sexuellen Missbrauch hängen dunkle Wolken über unserer Kirche.
Als Bischof muss ich zugeben, dass ich mir diese schrecklichen Taten lange nicht vorstellen konnte und wollte. Ich bekenne auch, dass mir die «Zeitenwende», in der sich unsere Kirche befindet, Angst gemacht hat. In den letzten Monaten ist mir die Notwendigkeit dieser Wende so deutlich vor Augen geführt worden wie nie zu-vor. Wenn ich heute und in Zukunft im Glaubensbe-kenntnis bete «ich glaube die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche», dann werde ich immer mitden-ken: Diese Kirche ist auch eine «sündige Kirche».
Das Ausmass an krimineller und krankhafter Energie, das ans Licht kam, bleibt unentschuldbar und unerklärlich.
Die Institution Kirche zu schützen – vor der Hilfe und dem Eintreten für die Opfer – ist heute unverständlich. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass viele Menschen das Vertrauen in die Kirche und ihre Repräsentanten verlo-ren haben. Dies ist mit ein Grund, dass Glaubende sich abwenden und von der Kirche nichts mehr erwarten.
Für mich ist auch klar, was Bischof Joachim Wanke schon 2010 in einem Brief an sein Bistum Erfurt geschrieben hat: «Schmerzliche und bittere Wahrheiten müssen angeschaut werden, auch wenn das weh tut, so-wohl denen, die einst geschädigt wurden als auch den Tätern… Es tut auch allen in unseren Gemeinden weh, die eigentlich unbeteiligt sind, aber die dennoch als Mitglieder der Kirche durch solche Taten mit in Haftung genommen werden».
Dieses Zitat macht bewusst, dass sich die Kirche schon lange in dieser «Zeitenwende» bewegt. Auch viele positive Entscheidungen sind in den letzten zwanzig Jahren gefallen. Ich denke an die geklärten Verfahrenswege bei Anzeigen und an die verstärkte Prävention im Bereich von sexuellem und geistlichem Missbrauch. Zur Kirche, wie das Zweite Vatikanische Konzil sie gedacht hat, sind wir aber immer noch unterwegs – zu einer Kirche also, in der die Gleichstellung von Mann und Frau, die echte Teilhabe der Glaubenden, die Menschenrechte und der Dialog selbstverständliche Inhalte und Praxis sind. Noch immer werden diese Grundsätze und Haltungen in der Kirche nur ansatzweise verwirklicht und drücken sich zu wenig in den eigenen Strukturen aus.
Liebe Schwestern und Brüder, i__ch weiss, dass dieser Wandel viele verunsichert und dass notwendige Veränderungen sogar die Einheit gefährden. Mit Papst Franziskus suchen wir den guten Weg, den wir miteinander gehen, mit Respekt aufeinander hören und aus der Weisung des Evangeliums mutig Entscheidungen treffen.
Ich danke allen, die unterscheiden zwischen berechtigter sowie notwendiger Kritik und der totalen Ablehnung der christlichen Botschaft.
Ich danke allen, die persönlich dem Ruf Gottes weiterhin folgen, auch wenn sie von Amtsträgern und ihren Missetaten enttäuscht sind.
Ich danke allen, die im Volk Gottes weiter mitgehen und sich einsetzen. Nur so werden auch die verschiedenen Dienste und Ämter ihren Sinn behalten.
Ich weiss, ja, ich bin überzeugt, dass die Kirche Jesu Christi Zukunft hat. Aber sie wird nur dann Zukunft haben, wenn Gottes Geist darin Raum findet. Sie wird glaubwürdig anerkannt, wenn die Zuwendung zu den Menschen, besonders zu den Armen und Ausgegrenzten, der Massstab des Handelns ist und bleibt. Das Zeugnis der Christinnen und Christen wird dort vertrauenswürdig, wo die Dienste der Kirche nicht als «Macht über alle», sondern als «Aufgabe für alle» verstanden und gelebt werden. Diese neue Kultur des Mit- und Füreinanders wird sich dort entfalten, wo Menschen, wie die ersten Jüngerinnen und Jünger, «bei Jesus wohnen», mit ihm in Freundschaft verbunden sind und aus seinem Geist in die Welt hineinwirken. Wenn diese Erneuerung aus den Wurzeln des Glaubens eine Frucht der momentanen Krise wird, ist ein wesentlicher Beitrag zur «Zeitenwende» und Erneuerung der Kirche geleistet. Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Seelsorge, die sich trotz Enttäuschungen mutig einsetzen und ich danke allen Freiwilligen, die Freude und Hoffnung, Trauer und Angst mit den Menschen teilen und so Zeugnis geben für Jesus Christus, der seine Kirche nicht verlässt.
Bitten wir Gott um seine Hilfe – zuerst und besonders für jene, denen schweres Unrecht und Leid zugefügt wurde. Denken wir auch an alle Kriegsopfer und beten wir für uns alle, dass wir dem Evangelium treu bleiben und im Vertrauen auf Gottes Erbarmen leben können.
Schliesslich bitte ich Sie: Beten Sie auch für mich als Ihrem Bischof – so wie ich für Sie alle bete und um Gottes Segen bitte.
Markus Büchel, Bischof
(Bild: Bistum St.Gallen)
Odilia Hiller aus St.Gallen war von August 2023 bis Juli 2024 Co-Chefredaktorin von «Die Ostschweiz». Frühere berufliche Stationen: St.Galler Tagblatt, NZZ, Universität St.Gallen.
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