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Serie | Geheimnisse & Enthüllungen

Böses Essen – Wie eine Magersüchtige zurück ins Leben gefunden hat

Als die Magersucht Naera Giaimo schleichend heimsuchte, war sie 16 Jahre alt. Heute hat die 26-Jährige das Schlimmste überstanden und den Weg zurück in ein gesundes Leben gefunden. Im Interview gewährt die Sarganserin in ihr von der Sucht diktiertes damalige Leben.

Michel Bossart am 29. Mai 2023

Frau Giaimo, wie ist die Magersucht damals in Ihr Leben gekommen?

Es war wohl eine Kombination verschiedener Dinge: einerseits fühlte ich mich in der Schule nicht dazugehörig, andererseits spürte ich, dass ich mit schwierigen Gefühlen nicht klarkomme. Die Gefühle, unter anderem Angst, Trauer und Wut überforderten mich. Ich merkte, dass ich diese mit nicht essen wegdrücken konnte. Das war mein Antrieb: nichts mehr zu fühlen.

Aber Hunger zu haben, ist ja nicht unbedingt gefühllos. War das Hungergefühl nicht stärker?

Der Hunger übersteuerte alle anderen Gefühle. Und wichtig war für mich, meine Gefühle steuern zu können, so auch das Hungergefühl. Ich erlangte so die Kontrolle. Fortan hatte ich nur noch Hunger, alle anderen Gefühle waren weg.

Haben Sie einfach aufgehört zu essen?

Nein, es begann damit, dass ich gewisse Mahlzeiten ausgelassen habe. Ich war an der Wirtschaftsmittelschule und musste mich auswärts verpflegen. Da habe ich dann einfach nichts oder nur wenig zu mir genommen. Dann ass ich weniger Znacht, dann weniger Zmorgen – bis es halt ausgeartet ist. Es ging relativ lange, bis ich mit dem Gewicht in eine kritische Phase kam.

Wann war das?

Bis zu den Abschlussprüfungen brauchte ich Energie und habe gegessen, einfach zu wenig. Dennoch wusste ich, dass ich Nahrung brauche, um die Abschlussprüfungen zu bestehen. Nachdem ich alle Prüfungen hinter mir hatte und auch bestanden hatte, war da eine «leere Zukunft». Ich hatte keinen Studiengang in Aussicht, keine Arbeitsstelle. Das hat mich zusätzlich verunsichert, kriegte Angst und dann gings schnell bergab. Ich verlor die Kontrolle. War ohne Perspektive. Die Magersucht war ein Fluchtweg. Ich konnte das Nicht-Essen kontrollieren. Wenigstens etwas.

Wie gut gelang es Ihnen denn, die Krankheit vor andern zu verbergen?

Tagsüber in der Schule war das einfach. Zu Hause beim Znacht sagte ich dann, dass ich schon viel Zmittag gehabt oder schon etwas im Zug gegessen habe. Die Magersucht fiel ja nicht auf, weil ich die ersten zwei bis drei Jahre nicht stark abgenommen habe. Erst als ich das erste Mal in die Klinik kam, verlor ich massiv an Gewicht.

Fühlten Sie sich denn zu dick?

Die Hauptursache für meine Erkrankung war ja die Kontrolle meiner Gefühle. Später habe ich dann schon gedacht, dass ich noch zu dick sei und noch weiter abnehmen könnte. Es gab auch Zeiten, da habe ich tatsächlich wie im Wahn Bodychecks gemacht und bin dauernd auf die Waage gestanden. Auf der Waage musste dann jedes Mal eine kleinere Zahl stehen, erst dann hatte ich das Gefühl, nicht mehr dick zu sein.

Naera Giamo

Nach langer und schwerer Magersuchterkrankung gönnt sich Naera Giamo 2022 den ersten Urlaub seit 2018.

Kann man sich als Anorektikerin jemals «dünn genug» fühlen?

Die Erkrankung führt bei vielen tatsächlich zu Körperwahrnehmungsverzerrungen. Diese lassen einen im Spiegel dicker erscheinen als man ist. Bei mir war das aber nicht der Fall. Ich habe genau gesehen, wie ich war. Es fühlte sich dann so an, als würde mein Gehirn das Spiegelbild dann «falsch» verarbeiten und so hatte ich dennoch das Gefühl, nicht dünn genug zu sein. Schlussendlich war es der Kopf, der mich nicht essen liess und mir sagte, dass ich noch nicht dünn genug bin

Vorher erwähnten Sie Ihren ersten Klinikaufenthalt. Warum wurden Sie eingewiesen?

Ich war mit mir überfordert und hatte grosse Ängste. Ich verstand nicht, was los war. Wusste nur, dass ich das nicht allein schaffe.

Wie lange dauerte es, bis Ihrem nächsten Umfeld klar wurde, dass etwas nicht mehr stimmte?

Ein halbes Jahr nach dem Klinikaufenthalt war meine Magersucht deutlich sichtbar. Das war Ende 2015. Man sah es mir einfach an.

Welche Ausreden benutzten Sie, um nicht zu essen?

Ich hörte auf, mit Kollegen auszugehen. Ich habe Ausreden gesucht, um nicht in Gesellschaft zu sein. Einfach um nicht Gefahr zu laufen, etwas essen zu müssen.

Waren Sie auch von der Bulimie betroffen?

Ja. Das sind aber zwei verschiedene Diagnosen. Viele, die in die Magersucht gerutscht sind und langsam wieder herausfinden, fallen in eine Bulimie. Das war bei mir auch so. Ich hatte Extremhunger und regelrechte Fressanfälle. Doch das schlechte Gewissen machte mich wahnsinnig und ich habe Gegenmassnahmen getroffen. Andere treiben viel Sport oder nehmen Abführmittel. Ich erbrach mich.

Wie haben Sie schliesslich aus diesem krankhaften Verhalten herausgefunden?

2019 war ich bereit für einen Aufenthalt in einer auf Essstörungen spezialisierten Klinik in Aadorf. Es gab regelmässige Mahlzeiten, Nachbehandlungen und die weitere Lebensplanung wurden an die Hand genommen. Ich habe sehr viel gelernt; nach einer Weile konnte ich mein Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Allerdings hatte ich viele Rückfälle, fiel in die Bulimie und mein Gewicht schwankte stark. Dank der getroffenen Eingliederungsmassnahmen arbeite ich seit 2021 wieder zu 50 Prozent. Ein Wohnortswechsel hat mir auch geholfen. Allgemein sind es viele, für mich wertvolle Sachen wie die Selbstständigkeit, die Gesundheit, die Arbeit, der Aufbau eines neuen sozialen Umfelds, die mich fürs Leben und den Kampf gegen die Magersucht motivieren.

Haben Sie keine Angst vor einem Rückfall?

Respekt, aber keine Angst mehr. Ich bin nun seit zwei Jahren komplett rückfallfrei und stabil. Während eines Jahres war die Angst noch da, seit einem Jahr ist aus der Angst Respekt geworden.

Würden Sie sagen, dass sie heute von der Magersucht geheilt sind?

Ich bin vorsichtig mit dem Wort «Heilung». Ich vergleiche die Krankheit mit einer Krebserkrankung. Da macht man eine Therapie und der Krebs verschwindet. Was bleibt, ist die Angst vor einem Rückfall. Im Moment habe ich diese Angst nicht. Ich weiss aber, dass sie im Hinterkopf noch vorhanden ist und so auch die Magersucht. Darum sage ich nie, dass ich geheilt bin. Aber ich kann heute ein Leben führen, das nicht von der Magersucht diktiert oder eingeschränkt wird.

Treffen Sie bestimmte Vorkehrungen zum Selbstschutz? Haben Sie zum Beispiel einen Ernährungsplan, den Sie strikte einhalten?

Einmal in der Woche gehe ich in die Gesprächstherapie. Diese hilft mir, die Ursachen für die Erkrankung aufzuarbeiten. Gegen Krisen und Angstzustände habe ich zusätzliche Werkzeuge: Ich bin viel draussen, klettere und mache Ballett. Von aussen gesehen, erscheinen diese Tätigkeiten wie Hobbys, was sie für mich auch sind. Jedoch sind meine Hobbys auch Werkzeuge für mich, um stabil zu bleiben und nicht wieder in eine krankhafte Richtung zu gehen. Einen Ernährungsplan habe ich nicht. Mittlerweile esse ich intuitiv: Ich höre auf meinen Körper und esse, wonach er verlangt. Wenn ich Lust auf Schoggi habe, dann esse ich Schoggi.

Welchen Einfluss haben die sozialen Medien mit den gefilterten und gephotoshopten Bildern Ihrer Meinung nach auf das Essverhalten junger Frauen?

Die sozialen Medien haben zwar einen beachtlichen Einfluss auf die jungen Menschen, aber ich bin der Meinung, dass hinter jeder Magersucht oder Depression viel mehr als bloss diese Bilder stecken. Ich für mich habe gelernt, wegzuschauen. Man muss einen guten Umgang finden und realisieren, dass die Bilder in den sozialen Medien oft rein gar nichts mit der Realität zu tun haben.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum 90 Prozent der Magersüchtigen Frauen sind?

Ich glaube, diese Zahl stimmt nicht mehr ganz. Mittlerweile gibt es vermehrt Männer, die magersüchtig sind und zusätzlich denke ich, dass die Dunkelziffer bei ihnen hoch ist. Aber dass es mehr Frauen sind, das stimmt schon. Ich denke, es könnte daran liegen, dass wir uns mehr als Männer über den Körper und das Aussehen unterhalten.

Heute engagieren Sie sich für Betroffene. Sind Sie zu einer Art Missionarin gegen die Magersucht geworden?

(lacht) Es stimmt zwar, dass ich seit letztem November in einer Peer Ausbildung für Genesungsbegleitung bin. Alle Teilnehmenden haben eine psychische Erkrankung hinter sich. Die Ausbildung dauert bis Mai 2024. Danach kann ich in der Psychiatrie arbeiten und auch Präventionsarbeit leisten. Es ist auch richtig, dass mir Aufklärung und die Entstigmatisierung der Magersucht am Herzen liegen, ob ich aber aktiv auf jemanden, der oder die offensichtlich magersüchtig ist, zugehen und die Person ansprechen würde…. Das ist schwierig. Man weiss nie, was man mit so einer Aktion auslöst, und das möchte ich nicht verantworten. Dennoch möchte ich mit meiner Geschichte anderen Menschen helfen, das soll in meiner Zukunft zu einem zentralen Teil in meinem Leben werden.

Zum Schluss: Welchen Tipp geben Sie Betroffenen auf den Weg?

Hilfe holen und sich helfen lassen.

Wo und wie denn?

Man sollte sich als allererstes jemandem anvertrauen. Das können Freunde oder die Eltern sein. Dann sollte man professionelle Hilfe bei einem Psychologen suchen. Lieber früher als später. Wichtig ist auch: Man sollte sich für die Magersucht nicht schämen. Anorexie ist eine ernsthafte Erkrankung, an der fünf bis zehn Prozent aller Betroffenen sterben. Unter allen psychischen Erkrankungen ist die Magersucht diejenige mit der höchsten Sterblichkeitsrate!

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Michel Bossart

Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).

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