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Grosser Mehraufwand

Gewalttätige Staatsverweigerer: «Da flog auch schon ein Bürostuhl an die Glasscheibe»

Die Coronapandemie hat den sogenannten Staatsverweigerern Auftrieb verliehen. Sie stellen sich gegen alles, was vom Staat kommt. Die Leidtragenden sind die Angestellten – und nicht zuletzt die Steuerzahlenden. Eine Umfrage bei Ostschweizer Betreibungsämtern.

Manuela Bruhin am 22. September 2023

Staatsangestellte werden von ihnen als «Scheinbeamte» betitelt. Oder als «Pseudostaatliche» - wenn die Tonart noch vergleichsweise nett ist. «Pisser» oder «Fuzzi» sind sie, wenn sich die Emotionen hochschaukeln. Und das tun sie schnell.

Die Rede ist von Staatsverweigerern. Personen, die sich gegen alles stellen, was vom Staat kommt. Jede Steuer, jedes Bussgeld, jede Mahnung wird angefochten oder ignoriert. Sie sind in der Ostschweiz, besonders in ländlichen Gegenden, auf dem Vormarsch.

Roger Wiesendanger

«Entlang des Sees sowie im Hinterthurgau gibt es zwei Gürtel, die hervorstechen», fasst Roger Wiesendanger zusammen. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen, er ist Amtsleiter der kantonalen Betreibungs- und Konkursämter im Kanton Thurgau.

Mehrmals wöchentlich Mehraufwand

Die Mehrarbeit, die den Behörden durch die Staatsverweigerer entsteht, ist inzwischen beträchtlich – wie eine Umfrage von SRF Investigativ zeigt. Insbesondere in der Deutschschweiz leben viele Staatsverweigerer. «Schon früher gab es solche, die ihre Rechnungen nicht zahlten», sagt Wiesendanger. «Seit Corona haben die Fälle aber ganz klar zugenommen.»

Eine genaue Statistik führe man zwar nicht. Wenn sich vorher alle zwei Monate einer darunter befand, hätten es die Angestellten nun mehrmals wöchentlich mit Staatsverweigerern zu tun. Seit der Pandemie gebe es mehr Trittbrettfahrer: Solche, die nichts mehr vom Staat akzeptieren – und ihre Wut und Aggressionen ungehemmt am Personal ausleben.

Dies geht im Kanton Thurgau so weit, dass man bauliche Massnahmen umgesetzt hat, damit die Mitarbeitenden besser geschützt sind. So sitzen sie beispielsweise hinter einer Glasscheibe. Im Notfall können sie einen Knopf drücken, wenn die Situation aus dem Ruder läuft. «Es gibt immer wieder Fälle, wo unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedroht werden. Physische Gewalt gibt es seltener. Aber auch schon flog ein Stuhl gegen die Scheibe», sagt Wiesendanger weiter.

Schikane und unangenehme Gespräche

Das Personal wird geschult und instruiert, wie solche unangenehmen Gespräche zu führen sind. Doch dass der Sachverhalt immer komplexer wird, die Mitarbeitenden unnötigen Schikanen ausgesetzt sind – dagegen kommt auch keine Schulung und theoretisches Wissen an.

«Es sind ganz klar Zeitfresser», sagt Wiesendanger. Die Akzeptanz gegenüber dem Staat habe abgenommen, und das bekommen auch andere Institutionen, wie beispielsweise die Polizei, zu spüren. Diese gesellt sich nämlich irgendwann dazu, wenn Zahlungsbefehle unbeantwortet bleiben, die Kontaktversuche ins Leere laufen.

Johannes Wagner

Johannes Wagner vom Betreibungs- und Konkursamt Appenzell Innerrhoden.

Meist handelt es sich um Steuerschulden, die nicht beglichen werden. In Foren gruppieren sich die Staatsverweigerer, geben sich gegenseitig Tipps, wie sie Behörden und Beamte schikanieren können.

«Man darf aber nicht das Gefühl erhalten, wer sich querstellt, muss nicht zahlen. Das ist uns eigentlich Hans was Heiri», bringt es Johannes Wagner vom Betreibungs- und Konkursamt Appenzell Innerrhoden auf den Punkt. «Wir fordern das Recht ein, und mit ihrem Verhalten schaden die Staatsverweigerer schlussendlich nur sich selber, da sich die ursprüngliche Forderung wegen den ausserordentlichen Bemühungen des Amtes stetig erhöht.»

Meist männliche Verweigerer

Im Kanton Appenzell Innerrhoden gab es vor der Coronazeit einen Staatsverweigerer, der dem Betreibungsamt bekannt war und schliesslich weggezogen ist. Nun sind es eine Handvoll Leute, die alles anfechten, was vom Staat kommt.

«Alles in allem sind es zwar unangenehme Gespräche – Angst, dass sie gewalttätig werden, haben wir bisher aber nicht», sagt Wagner weiter. Meist handelt es sich um Krankenkassenbeiträge, die nicht beglichen, oder Steuern, die ignoriert werden. «Obwohl es die Leute eigentlich bezahlen könnten. Das ist ja das Tragische», so Wagner.

Mit den angeordneten Zwangsmassnahmen könne das Geld zwar eingetrieben werden. Die Mehraufwände sind aber auch in Appenzell Innerrhoden nicht von der Hand zu weisen.

Meist sind Staatsverweigerer männlich und zwischen 30 und 65 Jahre alt, häufig alleinstehend. Auch wenn solche Fälle klar eine Minderheit bilden– froh, dass darüber berichtet wird, ist man auf den Ämtern dennoch. Viele könnten es nämlich kaum glauben, dass es solche Leute wirklich gibt, so Wagner.

Stephan Oehry

Stephan Oehry, Präsident des Verbands der Betreibungs- und Konkursbeamten der Kantone St.Gallen, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden und Glarus.

Auch im Raum St.Gallen und dem Kanton Appenzell Ausserrhoden sind Staatsverweigerer ein Problem. Aufgrund der dezentralen Organisation der Betreibungsämter im besagten Gebiet sei eine generelle Aussage aber schwierig.

«Je nach Gemeinde und Region ist die Häufung solcher Fälle unterschiedlich. Seit der Coronapandemie hat das Phänomen aber stark zugenommen», sagt Stephan Oehry, Präsident des Verbands der Betreibungs- und Konkursbeamten der Kantone St.Gallen, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden und Glarus. «Fakt ist, dass bei Staatsverweigerern der Mehraufwand markant ist.» Es gäbe dadurch lange Diskussionen am Schalter, es müssten Nachforschungen bei Dritten, also beispielsweise Banken oder Steuerbehörden, gemacht und Strafanzeigen geschrieben werden.

Andere Länder, andere Sitten

Im äussersten Fall kann schliesslich der Lohn gepfändet oder das Haus zwangsversteigert werden. Der Mehraufwand wird den Staatsverweigerern in Rechnung gestellt – und dennoch geht es auch zulasten der regulären Steuerzahler.

Generell dauere es zu lang, bis man eingreifen dürfe, sagt Roger Wiesendanger. «Andere Länder sind konsequenter als die Schweiz», sagt er. Und findet: «Die Politik müsste eine bessere Unterstützung bieten, damit wir gegen die Staatsverweigerer schneller und effizienter vorgehen können.»

Wichtig ist Abschalten

Und was treibt ihn und seine Mitarbeitenden an, damit er diese Arbeit nach all den Jahren doch noch ausführen möchte? «Wahrscheinlich ist es wie in jedem anderen Beruf – es ist wichtig, einen Ausgleich zu haben, damit man am Abend abschalten kann», sagt Wiesendanger.

Aber es sei Fakt, dass die Mitarbeitenden inzwischen häufiger und schneller die Stelle wechseln. Übte man das Amt früher fast ein Leben lang aus, kündigt man nun bereits nach vier, fünf Jahren die Arbeitsstelle. «Ich hoffe, dass das Phänomen der Staatsverweigerer künftig wieder abnimmt. Auch wenn der jetzige Trend, sich gegen Staatsangestellte aufzulehnen, eher Gegenteiliges befürchten lässt.»

(Bilder: PD)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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