Der Normalzustand einer Gesellschaft war noch nie ein Zustand ohne Katastrophen. Im Gegenteil: Gerade die Abfolge von Katastrophen hat ihren Verlauf bestimmt! Das gilt auch für Waldmeyers CV. Die Erkenntnis führt Waldmeyer zum Beschluss, sich nun besser auf Krisen vorzubereiten.
Gleich einer Perlenschnur haben sich Zufälle und unvorhersehbare Ereignisse aneinandergereiht und einen quasi schicksalshaften Verlauf der Geschichte ergeben. Eine Verkettung von unendlich vielen Zufällen und Einzelentscheiden führte letztlich dazu, dass Waldmeyer gerade jetzt mit Charlotte in seiner Villa in Meisterschwanden sass und ins Kaminfeuer starrte. Den Pfad Waldmeyers Vergangenheit säumten zwar nicht so viele Katastrophen. Hervorzuheben wäre eventuell sein Tsunami-Erlebnis 2004 auf den Malediven (vgl. dazu einen späteren Bericht Waldmeyers in Die Ostschweiz). Oder dieser Junkie mit dem Messer in Windhoek (Namibia 2015). Oder eben diese blöde Pandemie. Was der Ukraine-Krieg für längerfristige Auswirkungen auch auf Waldmeyer hat, steht noch in den Sternen. Dramatisch hätte es indessen am 8. Januar 2021 verlaufen können. Doch dazu später.
Katastrophen haben bestimmte Eintretens-Wahrscheinlichkeiten. Sie reichen von fast nie (z.B. ein Meteoriteneinschlag) zu ziemlich sicher (z.B. eine Flut oder ein Sturm). Man kann den Auswirkungsgrad dieser Eintretens-Wahrscheinlichkeiten als Gauss’sche Verteilung sehen: links der Glocke sehr gering, in der Mitte die fatalen und dennoch möglichen, rechts die ziemlich sicher eintretenden Ereignisse. Die links können wir quasi ausser Acht lassen (einen Vulkanausbruch beispielsweise im Mittelland), die rechts kriegen wir einigermassen in den Griff (ein Hochwasser zum Beispiel). Die in der Mitte sind die gemeinen: Wir wissen nicht, wie sie eintreten, geschweige denn wo und wann. Das sind die echten Katastrophen. Vor allem das Wann bleibt Willkür.
Es handelt sich äusserst selten um die „Black Swans“, wie sie Nassim Taleb beschreibt, die unvorhersehbaren, überfallmässig eintretenden Ereignisse mit eruptiver Wirkung. Die Finanzkrise 2007/2008 beispielsweise war in diesem Ausmass von niemandem vorausgesehen worden. Die meisten grossen Katastrophen sind allerdings keine Black Swans – das war auch die Pandemie nicht. Weil sie nämlich einigermassen vorauszusehen war und man sich vorbereiten konnte. Oder besser gesagt: Man sich hätte vorbereiten können.
Waldmeyer möchte gerne festhalten, dass er kein „Prepper“ ist. Er hält keine Notvorräte in Bunkern, hat kein geheimes Treibstofflager und auch keine umfassende Waffenausrüstung. Wenn die Welt nach einer Katastrophe wie bei „Mad Max“ aussehen würde, müsste man sich dennoch selbst zu helfen wissen. Aber dazu muss man ja nicht gerade ein Prepper sein, sondern einfach nur in Szenarien denken und sich vorsehen. Genau das versuchte nun Waldmeyer; er starrte noch immer ins Kaminfeuer.
Es gibt tatsächlich eine beachtliche Anzahl von gut möglichen künftigen Katastrophen: Covid-27 beispielsweise. Oder der Vesuv könnte ausbrechen - davon wäre Waldmeyer auch in Meisterschwanden betroffen, denn die Aschewolke würde halb Europa verdunkeln. Ein Erdbeben ist auch nicht ganz auszuschliessen, ebenso wenig eine böse Cyberattacke der Russen auf die Schweiz, weil wir ihre fetten Konten blockieren. Der Ausfall des Internets (selbstredend auch wegen den Russen) ist nicht völlig unwahrscheinlich, hätte indessen dramatische Auswirkungen. Eine grosse Flut wäre zumindest unangenehm, eine Atomkatastrophe katastrophal. Ein Strom-Blackout ist eigentlich demnächst zu erwarten, ein Zusammenbruch des Finanzsystems nicht völlig unmöglich – nur schon, weil die EU ihre Länderverschuldungen in astronomische Höhen treibt. Und wie würde es aussehen bei einem Umsturz in der Schweiz?
Ausklammern könnte Waldmeyer das Krisen-Szenario eines Studienabbruchs seiner Tochter Lara (sie studiert Kunst in Basel). Die Eintretens-Wahrscheinlichkeit ist zwar hoch, aber es würde nicht der Definition einer „Krise“ gerecht. Ausklammern könnte Waldmeyer auch eher unwahrscheinliche Vorgänge, eine grosse Feuersbrunst beispielsweise in Meisterschwanden. Realistischerweise, trotz den Russen, könnte man auch einen Atomkrieg als eher unwahrscheinlich einstufen, zu dessen Anlass er in seinem Luftschutzbunker, welchen aufgeklärte Schweizer in der Regel schon längst zu einem Weinkeller umfunktioniert haben, bis auf weiteres verharren müsste.
Was Waldmeyer jedoch aus seiner Auslegeordnung mit den vielen wahrscheinlichen Katastrophenszenarien lernt: Er muss nicht nur mental auf der Hut sein, sondern sich auch adäquat vorbereiten.
Vorab ging es Waldmeyer nun um das Durchdenken ganz praktischer Dinge. Waldmeyer unterteilte Katastrophen kurzerhand in solche, die entweder von etwas zu viel oder von etwas zu wenig mit sich bringen. Also beispielsweise zu viel Wasser. Oder zu wenig Treibstoff. Oder von irgendetwas zu wenig. Das „Zuwenige“, soweit es sich um Dinge mit Feststoffen handelt, könnte man natürlich elegant mit einem 3D-Drucker kompensieren: Man stellt einfach her, was fehlt. Doch das mit dem 3D-Drucker hatte ihm Charlotte bereits ausgeredet. „Weil du es nie schaffen würdest, ihn zu bedienen“. Vielleicht hatte sie recht – allerdings hat die Idee eines 3D-Druckers ohne Zweifel seinen Reiz, denn im Krisenfall könnte man genau das herstellen, was es dann eben nicht mehr gibt, und Waldmeyer könnte so vielleicht ein neues Geschäftsmodell entwickeln.
Am 8. Januar 2021 schrammte Europa an einer Strommangellage mit einer hohen Blackout-Wahrscheinlichkeit vorbei. Wenn die Windräder stillstehen, die Sonne nicht scheint, die Atomkraftwerke in Frankreich etwas gar runtergefahren wurden und gleichzeitig irgendwo im Osten ein klassischer Versorgungsmangel oder ein grösserer Spannungsfehler auftritt, kann das europaweit vernetzte Stromnetz instabil werden. Wenn dann noch das Gas fehlt, um zahlreiche Kraftwerke in Europa zu bedienen, sind die Blackouts endgültig da. Um ein Haar wäre es an jenem 8. Januar dazu gekommen. Ein Krisenszenario, das der Bund tatsächlich noch grösser einschätzt als eine Pandemie – seit Jahren. „Aber wir wären ja autark, zumindest für ein paar Tage“, meinte Waldmeyer triumphierend zu Charlotte, „wir haben für fast alle Katastrophenarten vorgesorgt“.
„Und was machst du, wenn plötzlich ein Einbrecher im Schlafzimmer steht?“, meinte Charlotte. Stimmt, daran hatte Waldmeyer nicht gedacht. Das wäre vielleicht ein Vorgang, der sogar wahrscheinlicher wäre als ein Tsunami im Hallwilersee. Oder immerhin so wahrscheinlich wie eine Cyberattacke auf Waldmeyers PC. Oder eben eine Strommangellage.
„Stimmt, Charlotte, wir sollten unser Sicherheits-Dispositiv überarbeiten. Vielleicht müssen wir doch an Waffen denken. Gehen wir doch einmal alle Szenarien durch.“ „Ja, klar, Max. Aber bitte nicht mehr heute Abend, ja!“
Waldmeyer, immer noch vor dem Kaminfeuer, schenkte sich etwas Cognac nach und richtete seine Gedanken wieder in Richtung Blackout. Er wollte die Idee einer eigenen Strom-Autarkie nun doch genauer analysieren. Ein Blackout wird nämlich kommen, das schien Waldmeyer nun so sicher wie das Amen in der Kirche. Also: Soll er nur kommen! Nun müsste folgerichtig eine zünftige Solaranlage aufs Dach, auch ein starker Generator müsste her, plus ein grosser Stromspeicher. Vielleicht müsste Charlotte dann ihren Audi aus der Garage rausstellen. Die Batteriespeicher, welche wirklich ein paar Tage oder gar Wochen Autonomie garantieren, sind nämlich auch heute noch so gross wie ein Fahrzeug – und würden einen ganzen Garagenplatz benötigen. Das Problem mit der Batteriegrösse hat selbst der Elon Musk noch nicht in den Griff bekommen, vielleicht auch, weil er sich etwas gar verzettelt mit seinen Plänen (so der Bevölkerung des Mars).
Als weitere Massnahme müsste selbstredend jemand Verdunkelungsvorhänge nähen. Für jeden Raum, wegen den Plünderern. Man stelle sich vor, wie nach ein paar Tagen Blackout brandschatzende Horden durch die Strassen ziehen und in der Nacht plötzlich irgendwo ein Licht zu sehen ist. Waldmeyers Licht, Gartenstrasse 4, Meisterschwanden. Das wäre eine zu offensichtliche Einladung. Waldmeyer nahm sich betreffend die Vorhänge vor, Alain anzurufen, den Dekorateur.
Charlotte antwortet normalerweise nicht auf Waldmeyers seltsame Pläne. Doch diesmal machte sie eine Ausnahme, sie rollte also die Augen und meinte, allerdings eher spöttisch: „Das Briefing mit Alain übernehme ich. Die Sache ist natürlich hoch-geheim, er darf absolut nichts erfahren, warum wir das mit der Verdunkelung planen. Ich werde ihm erklären, dass wir alle Räume so dunkel wollen, weil wir abwechselnd in allen Räumen schlafen wollen. Alain wird damit als potenzieller Plünderer schon mal wegfallen.“
Zum Glück hatte Waldmeyer das mit der Garage und dem Audi nicht erwähnt.
Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.
Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.
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