Wie sehr gefährdet die steigende Wildpopulation den Jungwald? An manchen Orten der Ostschweiz hat der der sogenannte Verbiss zugenommen – aber längst nicht überall, und auch nicht gleich stark. Eine Spurensuche.
Sie knabbern die Knospen an und knicken die noch zarten Äste ab – die steigende Wildpopulation sorgt dafür, dass auch der so genannte Wildverbiss zunimmt. Neuste Meldungen, wie beispielsweise jüngst in der «Bauernzeitung», besagen, dass sich Rehe und Hirsche am klimafitten Jungwuchs verbeissen. Wie ist es wirklich um den Jungwald in der Ostschweiz bestellt?
Seit 2001 wird im Kanton Thurgau eine systematische Verjüngungskontrolle durchgeführt. Die jagdlichen und forstlichen Massnahmen können deshalb auf gute Informationen zu Verjüngung und deren Verbiss durch Rehe und Hirsche gestützt werden.
«Der Verbiss durch Schalenwild gilt als Frühwarnindikator für Schäden in der Waldverjüngung», sagt Dani Rüegg. Zusammen mit seinem Team begleitet er seit über 30 Jahren Bund, Kantone, Gemeinden, Waldbesitzer und Jäger in der Thematik und hält die Feststellungen in entsprechenden Unterlagen fest.
Ein Drittel weniger Verbiss
Der Verbiss ist 2022 im Kanton Thurgau mit 15 Prozent um rund einen Drittel kleiner als ursprünglich im Jahr 2001 (21 Prozent). Die Abnahme habe vor allem in den Jahren bis 2009 stattgefunden. «Anschliessend hat sich der Verbiss auf dem neu erreichten tieferen Niveau konsolidiert», sagt Rüegg. «Es kann also angenommen werden, dass auch die Wildschäden weiter abnehmen werden.» Aus forstlicher Sicht bewege sich die Verbissintensität insgesamt auf einem tragbaren Niveau.
In einzelnen Regionen seien allerdings Probleme vorhanden. «Dort sind weitere Anstrengungen nötig, um die vielfältige, natürliche Verjüngung mit standortgerechten Baumarten nachhaltig zu sichern», so Rüegg. Das heisst, dass dort eine stärkere Bejagung und forstliche Massnahmen erfolgen.
Die Tanne auf Vormarsch
Nicht alle Baumarten sind gleich stark vom Verbiss gefährdet. Die Tanne besiedelt 2022 wesentlich grössere Flächen als noch im Jahr 2002. Mit ihr verbreitet sich zunehmend eine verbissempfindliche Baumart. Aber wie ist das möglich, wenn sich doch gleichzeitig die Rehpopulation in den letzten Jahren erhöht hat? «Die Baumart vermehrt sich prächtig, besiedelt neue Standorte und wächst besser auf als andere Baumarten», sagt Rüegg.
In der Zeit seit 2002 sei der Verbiss bei der Tanne meist im Bereich des Grenzwertes und nur selten darüber. Mit einem mittleren Verbiss 2002 bis 2023 von 12 Prozent könne eine Mortalität von 13 Prozent der Stammzahl berechnet werden, also ein beginnender Wildeinfluss.
Gutes Wachstum
Zum guten Gedeihen der Tanne dürfte laut Rüegg neben der guten Rehjagd im Kanton Thurgau, welche schweizweit zu den besten gehöre, auch die Holzerei der Förster beigetragen haben, welche vermehrt Licht auf den Waldboden bringt und die Jungbäume gut wachsen lässt. Dass ein tiefer und abnehmender Verbiss nicht gleichzeitig tiefe Rehbestände, geringe Abgänge oder geringe Abschüsse bedeuten, zeigt die Jagdstatistik. Ab 2007 ist der Rehbestand im Kanton Thurgau angestiegen. «Er wird 2022 38 Prozent höher taxiert als 2001, der Abgang ist 19 Prozent höher, der Abschuss neun Prozent und das Fallwild gar 53 Prozent.»
Zu den Verlierern gehört übrigens die Esche, welche üblicherweise in der Waldverjüngung häufig ist. Grund dafür ist das Eschentriebsterben – die Krankheit wird durch einen aus Ostasien stammenden Pilz verursacht. «Das Eschentriebsterben führt schon in der Waldverjüngung zu einem grossen Sterben der jungen Eschen», sagt Rüegg. Dennoch: Dank einer guten Waldpflege und der Jagd gebe es im Kanton Thurgau einen vielfältigen Jungwald und gesunde Wildbestände.
Konstante Bestände
Damit der Ausserrhoder Wald seine Funktionen langfristig erfüllen kann, sei ein ausgewogener Bestandesaufbau mit standortsgerechten und dem zukünftigen Klima angepassten Baumarten wichtig, sagt Beat Fritsche, Abteilungsleiter Wald und Naturgefahren und Oberförster des Kantons Appenzell Ausserrhoden. «Der Wildeinfluss auf die Waldverjüngung ist auch im Kanton Appenzell Ausserrhoden vorhanden und messbar. Wildzählungen, Daten der Verjüngungskontrolle und Fallwildstatistik lassen auf konstante bis steigende Wildbestände schliessen.»
Um die waldbaulichen Ziele zu erreichen, sei eine jagdliche Regulierung der Wildbestände unerlässlich. Daneben werden laut Fritsche laufend forstliche Lebensraumaufwertungen ausgeführt, damit der Wald den einheimischen Wildarten einen artgerechten, vielfältigen Lebensraum mit ausreichend Nahrung und Deckung bieten könne.
Erhöhter Jagddruck
Doch nicht überall sind die gleichen Schwierigkeiten feststellbar. Insgesamt sei im Hinterland der Wilddruck grösser, als es im Vorder- und Mittelland der Fall sei. Die Jägerschaft sowie die Jagd- und Forstdienste stehen deshalb in engem Kontakt miteinander und legen Massnahmen gemeinsam fest. «Für die aktuelle Jagdperiode wurden Schwerpunktgebiete definiert, in welchen zur Sicherung der Waldverjüngung ein erhöhter Jagddruck angestrebt wird», sagt Fritsche.
Wald ist nicht gleich Wald – und nicht alle Bäume sind gleich gefährdet. «Die Weisstanne spielt auch in Ausserrhoden eine grosse Rolle», sagt Fritsche. Daneben seien aber auch Ahorn, Buche und Fichte sehr wichtig.
«Zukünftig dürften auch weitere Baumarten, wie zum Beispiel die Eiche, an Bedeutung gewinnen. Wie sich diese Baumarten entwickeln, hängt aber unter anderem auch vom lokalen Wildeinfluss ab.» Die Waldverjüngung mit standortgerechten Baumarten funktioniere in Appenzell Ausserrhoden im Grossen und Ganzen, aber: «Im Hinblick auf die notwendige Anpassung an den Klimawandel muss die Verjüngungssituation laufend überprüft werden. Jagdliche Massnahmen bleiben sehr wichtig.»
Regionale Unterschiede
Die Verbissintensität im Kanton Appenzell Innerrhoden lag im Jahr 2023 bei durchschnittlich zehn Prozent. Auffallend sind laut Oberförster Martin Attenberger jedoch die Unterschiede in der Verbissintensität der unterschiedlichen Baumarten. «Bei Vogelbeere und Tanne ist die Verbissintensität im gesamten Kanton über, beziehungsweise im Bereich des Grenzwerts. Dies führt dazu, dass in grossen Gebieten des Kantons neben der Tanne auch die anderen 'klimafitten' Baumarten nicht oder nur sehr schwer aufkommen können.»
Wärme- und trockenheitsertragende «klimafitte» Baumarten wie beispielsweise Eiche, Linde, Föhre, Lärche oder Kirschbaum kommen in Appenzell Innerrhoden bis anhin «von Natur aus» nur selten vor. Das habe zur Folge, dass einerseits nur wenig Samenbäume für die gewünschte Naturverjüngung vorhanden sind. Andererseits ist die Naturverjüngung dieser Baumarten stark verbissen - weil sie eben selten sei.
Ohne Schutzmassnahmen geht es nicht
Nicht in allen Gebieten hat man jedoch mit den gleichen Voraussetzungen zu tun. Im Weissbachtal, Kronberg, Hundwilerhöhe und Alpstein könnten lediglich Fichte und Buche ohne Schutzmassnahmen aufkommen, sagt Attenberger. «Weitere Baumarten wie Weisstanne, Bergahorn und Vogelbeere werden hier durch den Wildverbiss zurückgedrängt und schaffen es kaum, aus der tiefsten Höhenklasse (<0.4m) zu wachsen.» In den Gebieten Leimensteig, Hirschberg und Oberegg könnten die Baumarten jedoch grösstenteils ohne Schutzmassnahmen aufkommen.
Damit klimafitte Baumarten aufwachsen können, müsse der Wildbestand durch die Jagd auf ein dem Lebensraum angepasstes Mass angepasst werden. Dies betrifft laut Attenberger in erster Linie den Rotwildbestand im Gebiet Weissbachtal-Kronberg – also südwestlich der Sitter.
«Neben jagdlichen Massnahmen benötigt es aber auch Massnahmen in den Bereichen Forstwirtschaft und Freizeitnutzung. Durch eine Besucherlenkung und Regulierung der Störungen können die Wildtiere wieder vermehrt auf Offenflächen austreten und dort in Ruhe die Nahrung aufnehmen.» Im Sinne einer integralen Lösung des Problems wurde im Januar 2018 von der Standeskommission das «Konzept Wald und Hirsch im eidgenössischen Jagdbanngebiet Säntis und Umgebung» mit dazugehörendem Massnahmenplan erlassen. Es handelt sich um ein wegweisendes Wald-Wild-Konzept, das unter Einbezug aller betroffener Akteure erarbeitet wurde.
50 bis 200 Franken – pro Baum
Im Kanton Appenzell Innerrhoden herrscht eine «Weisstannen-Lücke». In gewissen Gebieten wachse schon seit Jahrzehnten durch den Verbiss so gut wie keine Weisstanne mehr auf. «Über alle Baumarten betrachtet zeigt sich aber, dass die Verbissintensität tendenziell abnimmt. Das ist eine erfreuliche Tendenz», sagt Attenberger.
Dennoch: Der Jungwald leide teilweise stark unter dem Einfluss der Schalenwildbestände, vor allem unter dem Rothirsch. «Klimafitte» und zukunftstaugliche Baumarten können in bestimmten Teilen des Kantons ohne Wildschutzmassnahmen nicht aufkommen. Attenberger: «So müssen im Gebiet Weissbachtal-Kronberg für jedes Jungbäumchen, das nicht Fichte oder Buche ist, zwischen 50 und 200 Franken ausgegeben werden, um für die nächsten 20 Jahre ein Aufwachsen zu ermöglichen.»
Früher gab es Gerichtsfälle
Die Wald-Wild-Situation im Kanton St.Gallen war in der Vergangenheit angespannt. In Gebieten mit grossen Wald-Wild-Problemen fand man oft gepflanzte dunkle Fichtenstangenhölzer vor, welche besonders wildschadenanfällig waren. «Tannen und Laubhölzer hatten kaum eine Chance aufzukommen. Der Wildbestand überstieg vielerorts die vorhandene Lebensraumkapazität», heisst es im Dokument «Der Weg zum Erfolg», welches der Kanton St.Gallen Ende Juni veröffentlicht hat. Streitigkeiten zu Wildschadenforderungen landeten demnach mehrfach vor Gericht, die Stimmung zwischen Jagd und Forst war oft sehr angespannt.
Inzwischen präsentiert sich die Situation anders. Dies sei auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie dem Dokument weiter zu entnehmen ist. Zum Erfolg führten die gemeinsamen Begehungen im Feld, oder, dass die gemeinsam festgelegten Massnahmen umgesetzt und die Resultate gemessen wurden. Die fachlichen Grundlagen sind ausserdem verbessert und weiterentwickelt worden.
Licht für das Wachstum
Das Licht ist für das Pflanzenwachstum entscheidend – insbesondere für jüngere Bäume im Wald. Mit gezielten Eingriffen von unterschiedlicher Intensität wird das Licht dosiert und damit verschiedene Baum- und Pflanzenarten gefördert. «Die Regulierung der Wildbestände durch die Jagd trug ebenfalls wesentlich zur Erfolgsgeschichte bei», heisst es im Dokument weiter.
Der St.Galler Wald war in den letzten Jahrzehnten vor allem in den Voralpen von diversen Stürmen betroffen. Was für die Forstwirtschaft eine grosse Herausforderung darstellt, kann für die Biodiversität durch die entstandenen Sturmflächen förderlich sein.
Nicht zuletzt sorgt der Luchs eine zentrale Rolle in der Wald-Wild-Diskussion. Zusammen mit strengen Wintern reduzierte er den Reh- und Waldgamsbestand, schreiben die Verantwortlichen im Dokument weiter.
Konzepte, Strategien und Merkblätter sind zwar wichtig, aber schlussendlich zähle der Erfolg im Wald. Der Kanton St.Gallen hat dafür ein konkretes Beispiel, wie positiv sich die Lage der Weisstannenverjüngung im Forstrevier Wartau entwickelt hat. Auf einer Begehung im Herbst 2013 war der hohe Verbissdruck offensichtlich. «Die Situation hatte sich über die Jahre deutlich verbessert, wie der Kontroll-Augenschein im Jahr 2019 zeigte», heisst es weiter.
Die nachweisliche Verbesserung in der Verjüngungssituation in mehreren Gebieten des Kantons St.Gallen sei erfreulich. Nicht überall habe sich die Wald-Wild-Situation jedoch so deutlich verbessert. «Im südlichen Sarganserland bleibt die Situation weiterhin unbefriedigend. Auch in anderen Regionen braucht es weitere Anstrengungen», schreiben die Verantwortlichen. Die zunehmende Ausbreitung und das ausgeprägte Bestandswachstum des Rothirsches erfordere die Aufmerksam – und zwar von allen Beteiligten.
Bild: Depositphotos
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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