Vorfreude ist die schönste Freude. Sagt jedenfalls ein bekanntes Sprichwort. Leider hat es den Nachteil fast aller Sprichwörter: Dass es nicht für alle Lebenslagen gilt. Bei weitem nicht. Aktuelles Beispiel gefällig?
Nun gut: Die Vorfreude von Kindern auf das Christkind oder den Osterhasen ist riesengross. Und schön anzusehen. Die Vorfreude von Eltern oder etwa von Warenhaus-Verkäuferinnen ist jeweils schon deutlich geringer. Da von erheblichem Stress durchzogen. Und nie werden Manager häufiger krank, als wenn sie sich über die Weihnachtstage in den Schoss der Familie zurückziehen. Zweithäufigster Erkrankungs-Termin dürfte der Ausbruch, pardon: Anbruch der Ferienzeit sein.
Letzteres kann ich, ohne Manager zu sein, geistig sehr gut nachvollziehen. Dann nämlich, wenn ich die To-do-Liste abarbeite, die ich vor Beginn der Sommerferien vorsorglich angelegt habe: Steuererklärung endlich fertig ausfüllen und abschicken. Alle jene E-Mails beantworten, die schon längst hätten beantwortet sein müssen. Post und Zeitungen ab- oder umbestellen. Reiseadapter kaufen und aus der unsäglichen Plastik-Verpackung nehmen. Das Tränken der Pflanzen im und vor dem Haus organisieren. In Zeiten von Covid-19 genügend Gesichtsmasken in den Koffer legen. Den langen Zeitungsartikel und das Buch suchen, die man in den Ferien endlich lesen wollte – nur: wohin habe ich ihn nur hingelegt? Und wäre es nicht besser, den Schreibtisch jetzt aufzuräumen statt nach Ferienende? Und und und…. Ich will diese Kolumne ja nicht so weit verlängern, bis keiner mehr mitliest.
Da versuchen wir es besser damit, ein neues Sprichwort zu kreieren. Wie wäre es damit:
Ferien sind das, was der Mensch braucht, wenn er alles erledigt hat, um in die Ferien fahren zu können.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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