Danny Nakash am Bewässerungscomputer in Kerem Shalom.
Diese Begegnung führt uns nach Israel in ein Kibbuz, wo wir auf den Soziologen Danny Nakash treffen. Der Autor und Danny Nakash haben vor mehr als 25 Jahren im Kibbuz Kerem Shalom im Westen Israels am Rande des Gaza-Streifens und an der Grenze zu Ägypten auf dem Feld zusammengearbeitet.
(Bild: Nicolas Grospierre)
Danny, der ursprünglich aus Buenos Aires stammt, erzählt, wie sich das Leben in einem Kibbuz über all die Jahre verändert hat und wie die Situation mit Corona in seinem Kibbuz in Israel ist.
Danny Nakash, was ist ein Kibbuz?
Die Idee von einem Kibbuz ist etwa hundert Jahre alt, es ist vergleichbar mit einer Kommune. Es war schon etwas wie eine kleine Revolution, in einer Gruppe von Menschen so etwas wie einen Gesellschaftsvertrag zu schliessen, so dass alle Mitglieder eines Kibbuz die gleichen Rechte und die gleichen Anteile an den Einnahmen des Kibbuz hatten, egal ob man in der Landwirtschaft Traktorfahrer war oder Lehrer in der Schule oder der Operations-Manager des Kibbuz, das änderte sich zwar mit der Zeit und vor allem daran, welcher politischen und religiösen Richtung das Kibbuz angehörte, aber es gibt immerhin noch quasi so etwas wie ein Grundeinkommen, das nicht unterschritten wird. Im Prinzip ist so ein Kibbuz eine vergrösserte Familie. Bis etwa vor 40 Jahren schliefen in den meisten Kibbuzim die Kinder nicht im Elternhaus, sondern mit den anderen Kindern des Kibbuz in den Kinderhäusern. Die generelle Idee war, dass das gesamte Kibbuz die Kinder erzog, sie waren die Kinder des Kibbuz. Das politische System des Kibbuz ist ähnlich wie das politische System Deines Apfelschuss-Landes. Über alles wird demokratisch abgestimmt. So hat jede und jeder direkten Einfluss auf die Ereignisse der Kommune. Das Kibbuz ist schon ein wichtiger Teil der israelischen Geschichte, die Menschen lebten wie Pioniere in harten Gegenden und brachten, jetzt etwas romantisch ausgedrückt, mit der Bewässerungstechnik die Wüste zum blühen. Die Grösse eines Kibbuz reicht von vielleicht hundert bis tausend Leuten. Es gibt immer noch etwa 250 Kibbuzim in Israel, früher waren das mehr.
Danny, wir haben uns zum ersten Mal im Dezember 1992 im Kibbuz Kerem Shalom getroffen, genauer gesagt am 8. Dezember. Ich weiss das noch, weil es der fünfte Jahrestag der palästinensischen Intifada war, als ich bei Euch ankam. Kannst Du uns etwas über die Geschichte des Kibbuz sagen?
Das Kibbuz Kerem Shalom wurde 1967 nach dem 6-Tage-Krieg gegründet. Es war von Beginn weg links, ganz im Einklang mit der damaligen Hippie-Zeit. Du weisst schon, „Hair“ und so… „let the sunshine in!“ Das ist doch ein tolles Motto. Auch in Israel ging das teilweise sehr alternativ zu und her. Kerem Shalom war kein totales Nudisten-Camp, aber oftmals entledigten sich die Kibbuzmitglieder ihrer Kleider, weil sie sich freier fühlen wollten, ich denke vielleicht beim Schwimmen und Sport und so. Auch die Kinder hatten keine alleinigen Eltern, alle Erwachsenen waren für ihre Erziehung verantwortlich. Aber das habe ich ja schon mal gesagt. Ich erwähne es einfach nochmal um zu betonen, dass das Gesamtpaket gerade in Kerem Shalom also schon sehr progressiv und idealistisch war, das wenige Geld wurde sowieso egalitär verteilt. Mit der Zeit wurde das Kibbuz dann etwas „normaler“, das heisst konservativer, aber der bunte Ruf blieb natürlich. Kerem Shalom war in ganz Israel bekannt als das, sagen wir mal „etwas andere“ Kibbuz, manchmal sagte man auch das „Hippie-Kibbuz“. Von Beginn weg arbeiteten aber Palästinenser im Kibbuz, die Freundschaft mit ihnen war den Kibbuznik, also den Kibbuzmitgliedern sehr wichtig. Am Anfang waren die Palästinenser völlig gleichberechtigt. Sie waren zwar keine Kibbuzmitglieder, aber man achtete sie sehr, über die ganze Zeit hinweg. Es war z.B. schon 1967 die gleiche palästinensische Familie dabei, die Du dann 1992 kennengelernt hast.
Ja, Emad war der erste vom Kibbuz überhaupt, den ich an diesem Abend kennenlernte. Ich kam damals vom Bus und alles war an diesem Abend wie ausgestorben. Emad guckte Fernsehen im Speisesaal, er konnte nicht zurück über die Grenze, die an diesem Tag wegen der Intifada zu war. Wie kamst Du selber nach Kerem Shalom? Willst Du etwas über Dein Leben erzählen?
Also ich wurde in Argentinien geboren. Ich kam 1987 nach Israel, da war ich 21. Wir kamen in einer Gruppe von Hashomer Hatzair, eine sozialistisch-zionistische Jugendorganisation. So etwas ähnliches wie die Pfadfinder. Diese Organisation wurde 1913 Galizien gegründet. Weisst Du wo Galizien liegt?
Ungefähr. Ich weiss, dass Du nicht Galicien in Spanien meinst (lacht).
Ja, viele Leute verwechseln das tatsächlich mit der fast gleichnamigen Gegend in Nordspanien. Galizien liegt im heutigen Südpolen und der Westukraine. Etwa 2/3 aller österreichisch-ungarischen Juden lebte damals in Galizien, in grosser Armut in “Schtetln“ auf dem Land. Hashomer Hatzair ist aber eine sekuläre Organisation.
Ich weiss, ich bin durch Hashomer Hatzair in Zürich ins Kibbuz gekommen, die haben mich direkt nach Kerem geschickt. Das war die letzte Station der Buslinie. Danach kam Ägypten, Gaza oder die Wüste.
Siehst Du, aber ich kam 1987 nicht nach Kerem Shalom, sondern in ein anderes Kibbuz von Hashomer Hatzair namens Reschafim, welches von Überlebenden der Shoa gegründet wurde, vornehmlich aus Rumänien und Polen. Das war völlig an einem anderen Ort, etwas nördlich der so genannten West-Bank. Reschafim liegt übrigens 120 Meter unter dem Meeresspiegel. Aber egal. Jedenfalls lernten wir in Reschafim etwas über das Kibbuzleben und absolvierten Jobtrainings. Zuerst wollten Sie mich in die Mango-Landwirtschaft einteilen, aber ich war allergisch. Dann schoben sie mich in die Fabrik, aber das hasste ich. Schlussendlich arbeite ich im Dattelpalmengarten. Das war fantastisch. Nach ein paar Monaten kam ich nach Kerem und machte meinen Abschluss in Soziologie in Tel Aviv. Ich hatte in Argentinien angefangen, Soziologie zu studieren.
Wie kannst Du denn Soziologie in der Landwirtschaft gebrauchen?
Äh, gar nicht. Aber mit Soziologie kann ich das Kibbuzsystem besser verstehen. Ich war deshalb auch in verschiedenen Kibbuz-Komitees beispielsweise dem Kultur-Komitee, wo wir Feste und Veranstaltungen organisierten, oder im Komitee der Erziehung und im Schulkomitee.
Danny Nakash am Bewässerungscomputer in Kerem Shalom.
So ein Kibbuz ist ja im Prinzip gelebter Sozialismus. Die Mitglieder teilen alles. Kannst Du etwas über die Vor- und Nachteile des Kibbuzlebens erzählen?
Ich finde schön, dass man alles teilt, dass man zusammen arbeitet, zusammen isst und zusammen feiert. Man ist wirklich Teil einer grossen, lebenslangen Gemeinschaft. Was ich nicht so toll finde ist, wenn es selbstsüchtige Leute gibt, die nur auf ihren eigenen Vorteil aus sind.
Warum hast Du Kerem Shalom verlassen?
Ach, weisst Du, Kerem Shalom liegt genau an der Grenze von Ägypten und dem Gaza Streifen. Es gab immer mehr Attacken von Terroristen, ja ganz Israel war damals betroffen. Immer weniger Leute wollten nach Kerem ziehen, weil sie Angst hatten, dass das Kibbuz bald schliessen wird, dass ihre Kinder keinen Schulplatz finden. Und so fängt dann eine Abwärtsspirale an, die sich schwer umkehren lässt. Die Kibbuz-Bewegung hat uns gesagt, wenn ihr unter 25 Mitglieder fallt, dann schliessen wir das Kibbuz. Und das passierte dann tatsächlich. Ich war gerade in meinem Heimatland Argentinien in den Ferien, als ich die Nachricht bekam. Das war wirklich eine schlimme Zeit für mich privat. Ich wäre sehr gerne in Kerem geblieben.
Was wurde aus den Palästinensern, die im Kibbuz lebten?
Die Situation der Palästinenser ist schrecklich. Seit 1997 ist die Grenze praktisch immer zu. Es ist nicht so wie damals, als wir in einigermassen gutem Einvernehmen mit den Palästinensern standen.
Marcel Emmenegger und Alejandro Crivisqui (el gaucho judio).
Ich erinnere mich an diese Zeiten, 1993 sind wir Volontäre über die Grenze nach Rafah geschlichen und haben Fussball mit den palästinensischen Jugendlichen gespielt, der Grenzzaun hatte damals viele Löcher. Das wurde dann immer schwieriger, wir liefen rückwärts über den Sandstreifen aber flogen fast immer auf (lacht). Irgendwann liessen wir diese Lausbubenstreiche bleiben, nachdem uns Euer Militär wohl zurecht ins Gewissen geredet hat. Wir haben damals auch im Juli 1994 auf Arafat an der Strasse gewartet, als er zurück aus dem Exil kam, aber die Grenzsituation wurde danach immer gefährlicher.
Ja, damals hatten wir grosse Hoffnung, dass es besser wird, aber es wurde immer schlimmer – vor allem natürlich wegen den radikalen Hamas, die ja im Gegensatz zur PLO überhaupt nichts mit uns zu tun haben wollten. Als das Kibbuz 1995 schloss, gaben wir „unseren Palästinensern“ viele Tiere mit nach Gaza, wie Truthähne, damit sie dort in Khan Yunis züchten konnten, auch gaben wir ihnen einiges an Saat und Dünger und Arbeitsmaterial.
War es schwierig für Dich, ein neues Kibbuz zu finden?
Ich fand, dass es schwierig war. Es gab Betar, also eine rechte Kibbuzbewegung und sowas liegt mir gar nicht. Kerem Shalom wurde ja später im Jahr 2001 wiederbelebt als ein rechtes, religiöses Kibbuz, es wurde quasi zu einem Symbol standhaft zu bleiben, denn es wurde immer wieder Ziel von palästinensischen Granaten. So immer mit Gewehr in der Hand könnte ich nicht leben. Ich bin jetzt auch wieder in einem Kibbuz, das von Hashomer Hatzair Ende der 40er Jahre gegründet wurde, von Leuten aus Südamerika. Es liegt zwischen Gaza Stadt und Ashekelon. Wir hatten vor ein paar Jahren auch Raketenbeschuss aus Gaza, aber weniger. Im Kibbuz Zikim kümmere ich mich um Advocados. Dagegen bin ich nicht allergisch (lacht). Aber wir haben auch eine grosse Molkerei und eine Fabrik namens Polytron, die Betten und Sofas herstellt. Eine andere Fabrik stellt Polyurethane her, das sind spezielle Kunststoffe, die man in der Fahrzeug- und Transportindustrie brauchen kann.
Wie hat Euch Corona getroffen?
Naja, meine Freundin und ich waren fast einen Monat ausser Gefecht gesetzt, wir mussten zuhause bleiben. Die Krankheit an sich war nicht so wild, aber Du kennst ja das ganze Prozedere, wenn Du mal positiv getestet wirst. Wir haben mittlerweile eine Impfung erhalten, also nur eine, weil wir krank waren. Normal wären ja zwei und jetzt fangen sie mit der dritten an. Die meisten Leute hier sind der Impfung positiv gegenüber eingestellt. Einige lehnen sie natürlich ab, weil sie denken, dass sei ein unnötiger Eingriff in das Immunsystem. Aber wir gehen nicht so viel in die Städte rein. Darum bekommen wir hier nicht mit, was da alles so läuft. Ein Vorteil des Kibbuzlebens. Masken tragen wir nur im „Chadar Ochel“ (Mensa) oder eben dort, wo halt die Menschen nahe aufeinander sind.
Marcel Emmenegger ist Sozialarbeiter und wohnt in Herisau.
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